Berlin. Laut einer neuen Studie arbeiten Erwerbstätige im Osten länger – in Brandenburg am längsten. Ein Experte glaubt, den Grund zu kennen.

Berufstätige in Ostdeutschland arbeiten im Jahr rund 50 Stunden mehr als Erwerbstätige in Westdeutschland. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung der auf Regionalmarktforschung spezialisierten empirica-Tochter empirica regio. Die Auswertung liegt unserer Redaktion vorab vor. Das Berliner Marktforschungsinstitut hat dabei das Arbeitsvolumen in 400 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland unter die Lupe genommen – und eine klar sinkende Tendenz festgestellt.

Im Jahr 2020, für das die jüngsten Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der Länder vorliegen, kamen Arbeitnehmer und Selbstständige demnach im Schnitt auf 1324 Stunden pro Jahr. Während im Westen 1315 Stunden pro Erwerbstätigen zusammenkamen, waren es im Osten 1367 Stunden. Seit 2010 ist die Arbeitszeit den Daten zufolge um mehr als 100 Stunden zurückgegangen. Vor 13 Jahren wurden bundesweit im Schnitt noch 1426 Arbeitsstunden pro Erwerbstätigen und Jahr geleistet, im Westen waren es 1410 Stunden, in Ostdeutschland 1497 Stunden.

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Auch wenn man das Vorpandemiejahr 2019 nimmt – 2020 war geprägt durch die Kurzarbeit – liegt der Wert mit 1382 Stunden deutlich unter den Werten der Vergangenheit. Zum Vergleich: 2007 wies die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung noch eine durchschnittliche Arbeitszeit von 1454 Stunden aus. In die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung fließt die tatsächlich geleistete Arbeitszeit aller Erwerbstätigen, also Arbeitnehmern, Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen ein. In Zeiten des Fachkräftemangels fordern Ökonomen immer wieder, dass man den Trend zur kürzeren Arbeitszeit umkehren müsse.

Ostdeutsche arbeiten im Schnitt länger – wo am meisten gearbeitet wird

Die Datenauswertung von empirica regio lässt aber auch Interpretationen zu, wie Arbeitszeiten mit den Gegebenheiten vor Ort korrelieren. Am meisten Arbeitsstunden seien 2020 im brandenburgischen Landkreis Teltow-Fläming mit 1418 Stunden geleistet worden, gefolgt von den sachsen-anhaltinischen Landkreisen Jerichower Land (1412), Saalekreise (1412), Börde (1405) sowie dem thüringischen Sömmerda (1404). Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen – warum arbeiten in Landkreisen dieser Bundesländer Menschen dort mehr als beispielsweise in Berlin (1335 Stunden pro Jahr), Hamburg (1349), Braunschweig (1307) Essen (1303) oder Tübingen, wo lediglich 1251 Stunden pro Arbeitnehmer absolviert werden?

Ein Lehrling arbeitet in der Ausbildungsstätte vom Braunkohlekraftwerk Jänschwalde der Lausitz Energie Bergbau AG (Leag) an einer Drehbank.
Ein Lehrling arbeitet in der Ausbildungsstätte vom Braunkohlekraftwerk Jänschwalde der Lausitz Energie Bergbau AG (Leag) an einer Drehbank. © picture alliance/dpa | Patrick Pleul

Jan Grade, Geschäftsführer von empirica regio, versucht sich an einer Erklärung. „Das Arbeitsvolumen korreliert dabei stark mit der Betreuung von Kleinkindern unter drei Jahren. Das Betreuungsangebot in Ostdeutschland ist im Verhältnis zu den unter Dreijährigen schlicht besser ausgebaut als in anderen Regionen.“ Eine direkte Kausalität lasse sich aus den Daten allerdings nicht ableiten. „Aber auffällig ist es schon, dass in Regionen mit verhältnismäßig niedrigerem Arbeitsvolumen auch die Betreuungsquoten bei Kleinkindern niedriger ausfallen.“

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Die bundesweit höchste Betreuungsquote weise das Jerichower Land auf – 62,4 Prozent der unter dreijährigen Kinder würden in dem Landkreis im Nordosten Sachsen-Anhalts betreut werden. In Gelsenkirchen dagegen liegt die Quote nur bei 18,1 Prozent – die Wochenarbeitsstunden liegen in der Ruhrgebietsstadt 118 Stunden niedriger als im Jerichower Land. Im ostdeutschen Schnitt liegt die Betreuungsquote bei rund 52 Prozent, in den westdeutschen Bundesländern dagegen nur knapp über 30 Prozent.

Hohe Arbeitszeit, niedrige Bruttowertschöpfungsquoten

„Wir gehen davon aus, dass sich die Lücke beim Arbeitsvolumen zwischen Ost- und Westdeutschland in Zukunft schließen wird“, sagte Grade. Aktuell beobachte man, dass das Arbeitsvolumen in Westdeutschland steige – im Osten aber stagniere. Wobei die Arbeitszeit mitunter wenig über die tatsächliche Wertschöpfung in einer Region aussagt. Bei der Bruttowertschöpfung, also dem Wert aller erzeugten Waren abzüglich der dabei entstandenen Kosten, landen die ostdeutschen Bundesländer mit einer Spanne von 40 bis 44 Euro je Stunde am Ende der Statistik.

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In Hamburg liegt die Bruttowertschöpfung pro Stunde den Daten zufolge bei 61 Euro, in Hessen bei 56 Euro. In den Autostädten Wolfsburg und Ingolstadt werden gar Werte von 103 beziehungsweise 90 Euro pro Stunde erzielt. Im Landkreis Teltow-Fläming, wo die meisten Arbeitsstunden bundesweit anfallen, liegt der Wert bei 50,35 Euro pro Stunde und damit über dem Schnitt der ostdeutschen Bundesländer, allerdings knapp unter dem bundesweiten Schnitt von 51,3 Euro pro Stunde.

Großunternehmen siedelten sich zuletzt im Osten an

Dass sich das Arbeitsvolumen angleichen könnte, begründet Grade unter anderem mit dem Strukturwandel, der die industriell geprägte Wirtschaft in Ostdeutschland dazu zwingen könnte, die Arbeitszeit zu verkürzen. Zudem liege im Osten die Quote der Tarifverträge niedriger – häufig sehen Tarifverträge etwas kürzere Arbeitszeiten vor als sie Unternehmen einfordern, die keine Tarifpartnerschaft eingehen.

Immerhin: Gerade mit Blick auf die Wertschöpfung kann der Osten auf eine Aufholjagd hoffen. Die Ansiedlungen von Unternehmen wie etwa Bosch in Sachsen,Tesla in Brandenburg oder Intel in Sachsen-Anhalt haben zuletzt aufhorchen lassen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte im Juni bei einer Veranstaltung des Ostdeutschen Wirtschaftsforums gar von einem „Boom“ der ostdeutschen Wirtschaft gesprochen. „Es gibt eigentlich kaum eine Zukunftstechnologie, kaum eine Wachstumsbranche, die hier in Ostdeutschland nicht bereits zuhause ist oder sich hier gerade ein neues Zuhause sucht“, hatte der Kanzler gesagt.

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