Wesel. .
Drei Wochen lang war Rudi ratlos. Der gut ein Jahr alte Rehbock konnte es einfach nicht verstehen, warum sein Ziehvater plötzlich nicht mehr zu ihm kam.
Bislang war der nämlich nahezu jeden Tag zur Stelle, um Rudi, das hübsche Reh, zu kraulen und mit Äpfeln zu füttern - mit Bio-Äpfeln, versteht sich. Rudis Ziehvater ist nämlich der Vorsitzende des Naturschutzbundes Kreis Wesel und setzt auf gute Kost für seinen Schützling. Die findet Feinschmecker Rudi in seiner seit etwa einem halben Jahr neuen Umgebung auch, weiß Peter Malzbender und zeigt auf frische Vogelmiere und saftige Brombeerblätter. Die verzehrt das Tier nur allzu gern, neben vielem anderen Grün. Doch vorher musste es erst einmal aufgepäppelt werden.
Drei Tage alt
Es war der 17. Mai 2012, als der Weseler Peter Malzbender um kurz nach neun von einer Vogelexkursion in der Obrighovener Lippeaue zurückkehrte. Da vernahm er ein lautes Wehklagen und Wimmern, sah plötzlich einen Retriever-Mischling mit dem kleinen Rudi im Maul. Rudi sei damals höchstens drei Tage alt gewesen, sagt der Naturschützer, der sein teures Fernglas nahm und es auf den Hund schleuderte. Der wiederum ließ das Kitz fallen, das er im Übrigen nicht gebissen hatte und war mehr als verdutzt. Malzbender beruhigte den Hund, kümmerte sich dann um das Reh und nahm es mit nach Hause.
Was folgte, war harte Arbeit. Denn Reh Rudi brauchte nicht nur Zuwendung, sondern vor allem regelmäßig Nahrung. Es bezog mit einem Wäschekorb den Platz neben Malzbenders Bett. Fünfmal in der Nacht gab es Milch, Ziegenmilch, weil das Reh das Produkt der Kuh nicht vertrug. Also wälzte der 61-Jährige Fachliteratur, besprach sich mit Fachleuten und landete so bei der Ziegenmilch. Später ging es für das Wildtier zunächst in den Feldmarker Garten von Malzbenders Mutter, wo Yana das Junge in seine Obhut nahm und es vehement verteidigte. Yana ist der schwarze Labrador von Malzbenders Schwester Hildegard und so etwas wie ein tierischer Freund.
So ging das eine Zeitlang, bis Peter Malzbender ans Auswildern an der Obrighovener Lippe dachte. Mit dem Reh auf dem Rücksitz seines Passats trat er immer wieder die Fahrt an und sah an so mancher Ampel in erstaunte Gesichter. Doch obwohl Rudi nicht gern Auto fuhr - wenn Malzbender ohne ihn die Heimreise nach Wesel antreten wollte, drängte sich das Reh regelrecht auf die Rückbank. Die Auswilderung scheiterte zunächst.
Eingespieltes Team
Mittlerweile hat der ausgewachsene Rehbock in einem fast 30 Hektar großen Waldstück in den Kanonenbergen sein Revier und bekommt regelmäßig Besuch von Ziehvater Malzbender. Der möchte zwar keine Bambi-Story lesen, doch irgendwie lässt sich das bei dieser Geschichte kaum vermeiden. Rudi und Peter sind nun mal ein eingespieltes Team. Wenn Peter Malzbender ruft, kommt Rudi, lässt sich kraulen, die Zecken entfernen und leckt seinem Retter dankbar die Hände.
Nur kürzlich, als Rudi ratlos war, weil der Naturschützer drei Wochen in Brandenburg weilte, zeigte er ihm nach seiner Rückkehr erst die kalte Schulter. „Da war er beleidigt“, ist sich Malzbender sicher, wobei dies längst vergessen ist. Ein paar Stückchen vom Bio-Apfel und viele, viele Streicheleinheiten haben Rudi längst wieder versöhnt.