Wesel. .
Eltern gründeten die Stiftung „Cassiopeia“ und stemmen ein Wohnprojekt für ihre erwachsenen Kinder mit Behinderungen. Ende 2011 soll Einzug an der Gelißstraße sein.
„ Ich suche verzweifelt endlich einen Ort, an dem ich allein leben kann.“ Diesen Wunsch formuliert Inga Kohlmann aus tiefstem Herzen, als sie mit ihrer Mutter Silvia Kohlmann den Verein „BetreuWo“ besucht. Die 26-jährige Inga, geistig und körperlich behindert, lebt zu Hause bei ihren Eltern. Noch. Denn sie gehört zu den zwölf jungen Erwachsenen zwischen 20 und 30 Jahren, die in ihre ersten eigenen vier Wände einziehen werden. In der Gelißstraße 17-19 im Schepersfeld entsteht ein Wohnprojekt für behinderte Menschen, das es so in Wesel noch nicht gegeben hat (die NRZ berichtete). Der Grundstein für den Neubau wurde, symbolisch zumindest, schon vor vielen Jahren gelegt.
Ende der 80er Jahre gründen Eltern die Initiative „Gemeinsam leben - gemeinsam lernen“. Was sie eint: Ihre Kinder leben mit geistigen und körperlichen Behinderungen. So wie die Eltern, lernen sich auch die Knirpse im Laufe der Zeit immer besser kennen, ein unsichtbares Band hält die meisten bis heute zusammen. Als sie volljährig werden, ist es wie bei anderen auch: „Da überlegt jeder junge Mensch, wie es weitergeht, ob er auszieht und wohin“, sagt Silvia Kohlmann (59), die zu den Initiatoren des Projekts zählt. Ihre Tochter Inga lebt von Anbeginn „ein Leben so normal wie möglich, was normal auch immer heißt“.
Rückzug oder
Geselligkeit
Mitstreiterin Marlies Karrer (59) kann dies nur unterstreichen. Ihre Tochter Linda (22) kam mit einer spastischen Tetraplegie auf die Welt. Durch die Lähmung aller vier Gliedmaßen sitzt sie im Rollstuhl. Auch sie zieht es von zu Hause weg - hinaus ins eigene, selbstständige Leben.
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Das soll nun möglich werden. In dem neuen Haus mit zwei Etagen entstehen zwölf Apartments, die alle schon vergeben sind. Hinzu kommen Gemeinschaftsräume, und auf dem Außengelände soll ein Garten entstehen. Das Haus bietet sowohl Rückzug ins eigene kleine Reich als auch Geselligkeit in der Gemeinschaft. Der Betreuungs- und Hilfebedarf der zukünftigen Bewohner ist sehr unterschiedlich. Der Verein „BetreuWo“, den Cassiopeia zur Mitarbeit gewinnen konnte, wird unter anderem Hilfen bei der Alltagsbewältigung bieten und Fahrdienste organisieren. Außerdem wird ein ambulanter Pflegedienst engagiert.
Die Bewohner, fast alle arbeiten in Werkstätten für behinderte Menschen, werden Mieter der von den Eltern gegründeten Stiftung „Cassiopeia“. Sie beziehen Grundsicherung, wovon sie die Miete bestreiten. Und das bereits ab Ende 2011, wenn alles planmäßig läuft. „Dann nehmen wir uns aber als Eltern zurück und funken da nicht rein“, versichert Silvia Kohlmann.
Die Gedanken an den Abschied sind bei Marlies Karrer „teilweise zwiespältig“. Einerseits sei es wie bei jedem anderen Kind, das sich abnabelt und die Familie verlässt. Andererseits „bin ich zweimal da“, sagt die 59-Jährige. „Ich ziehe mich an, ich ziehe Linda an“, es doppeln sich die Handgriffe im Laufe eines Tages. Seit 22 Jahren. Wie wird es sein, wenn Marlies Karrer dann nur noch einmal da ist? Doch es überwiegen Vorfreude und die Gewissheit, dass die erwachsenen Kinder gut aufgehoben sind, wenn die Kräfte der Eltern im Alter nachlassen. „Wir wollen, dass sie frei entscheiden und selbstbestimmt leben können.“
Nach einem langen Gang durch Ministerien und Ämter, der nicht immer einfach war, ist „Cassiopeia“ diesem Ziel ganz nah. Der Name steht auch für ein Gestirn am Firmament. Die Stiftung greift halt nach den Sternen.