Wesel. Klaas Wagner ist neuer Spix-Geschäftsführer. Der Rheinberger löst Jo Becker ab, der die Sozialpsychiatrische Initiative vor 35 Jahren gründete.

Zwei Dinge braucht der Mensch. „Ein Zuhause und Arbeit, die anerkannt wird“, sagt Jo Becker mit voller Überzeugung. Vor 35 Jahren hat der Xantener mit einigen Mitstreitern die „Sozialpsychiatrische Initiative Xanten“, in der Region unter der Abkürzung Spix längst ein Begriff, als eingetragenen Verein gegründet. In einer Zeit, in der Menschen im Falle einer schweren psychischen Erkrankung in Kliniken wie in Bedburg-Hau ihr ganzes Leben lang in großen Schlafsälen ihr Dasein fristeten und so gut wie nicht mehr in Kontakt zu anderen Menschen kamen. „Diesen Zustand fand ich fürchterlich, das war ein unwürdiges Leben in erbärmlichen Wohnverhältnissen“, sagt der heute 64-Jährige. „Leben findet in der Gemeinschaft statt, nicht in einer Anstalt.“

Umdenken bei der Politik

In vielen Veröffentlichungen, beispielsweise im Ärzteblatt, prangerte Jo Becker, der als Arzt in Bedburg-Hau arbeitete, die Missstände an und trug zusammen mit einem Bericht im WDR-Fernsehen wesentlich dazu bei, dass sich 1989 auch in politischen Kreisen ein Umdenken einstellte – weg von der Anstalts- und hin zur Gemeinde-Psychiatrie, in der sich Träger vor Ort um die Belange von Menschen mit psychischen Erkrankungen und seelischen Behinderungen kümmerten. Die Wiederherstellung normalisierter Lebensumstände für Menschen mit Behinderungen lief unter dem etwas sperrigen Begriff Enthospitalisierung, unterlief in den 90er Jahren einem langwierigen Prozess und mündet heute im Bundesteilhabegesetz.

Teilhabe mit viel Menschlichkeit

lm Kreis Wesel und inzwischen darüber hinaus füllte die Spix das große Ziel der Teilhabe mit jeder Menge Menschlichkeit – in den eigenen Werkstätten und mit betreutem Wohnen. „Chronisch kranke Menschen sollten eine eigene Wohnung haben, nicht nur ein Zimmer in einem Heim, und sollten möglichst eine Arbeit an einem normalen Arbeitsplatz und nicht in einer Institution finden“, erklärt Jo Becker. „Das sehen wir als Schwerpunkte unserer Arbeit an.“ Wir - das sind inzwischen 200 Mitarbeiter in vielen Einrichtungen am Niederrhein mit deutlichem Schwerpunkt in Wesel und dem Hauptsitz am Kaiserring. An der Bocholter Straße liegt die Werkstatt, eine weitere gibt es in Emmerich. Hinzu kommen in Wesel die Fahrrad-Station Gleis 31, das Café Vesalia und die Friedhofsgärtnerei.

Mehrere Modelle entwickelt

„Unsere Dienstleistungen sind willkommen“, weiß Jo Becker. Von den etwa 220 Menschen mit Handicap arbeiten 60 Prozent in den Werkstätten, 40 Prozent in normalen Betrieben. Dabei steht im Fokus, dort keinem Mitarbeiter den Platz streitig zu machen, sondern durch die zusätzliche Arbeitskraft zu einer Entlastung der Belegschaft, zu einer Entschleunigung beizutragen. „Wir nennen es Job-Carving - man schnitzt sich einen neuen Arbeitsplatz“, so Becker. „Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ist das wichtig“, ergänzt Klaas Wagner, der am 1. Juli als Nachfolger von Jo Becker die Spix-Geschäftsführung übernommen hat. Interessierte Arbeitgeber werden weiter gesucht.

Etwa 350 Menschen betreut die Spix im Rahmen des ambulant-betreuten Wohnens. Dieser Zweig ist einer von mehreren Modellen, die der Verein entwickelt hat. Dazu gehört auch das Betreute Wohnen plus, rund um die Uhr und auch am Wochenende. Und das WohnRaum-Team sucht Hausbesitzer, die bereit sind Einzelappartements zu schaffen. Noch ein Nischendasein auch im Kreis Wesel ist das Wohnen in Familien. Zudem betreut Spix zahlreiche Selbsthilfegruppen, bietet daneben Beratungsgespräche an. „Wir haben eine hochmotivierte Mannschaft, die nicht wechselt“, freut sich Jo Becker. „Mit einer hohen Flexibilität, gerade auch in Zeiten der Pandemie.“

Weiterentwicklung auch über die Kreisgrenzen hinaus

Mit 64 Jahren will der Xantener jetzt kürzer treten, mehr Zeit für die Enkelkinder, das Radfahren, Reisen und Kochen finden. Klaas Wagner ist gerade dabei, „die Gesichter der Mitarbeiter kennenzulernen“ und sich mit den Strukturen vertraut zu machen. Der 44-jährige Rheinberger hat sich ein klares Ziel gesetzt: „Ich möchte die Gemeindepsychiatrie weiterentwickeln, auch über die Kreisgrenze hinaus.“ Auf seine Mitarbeiter dürfte sich der neue Mann an der Spitze verlassen können: Die Fluktuation ist gering, es gibt viele Initiativbewerbungen. „Wir sind im Wachstum.“ Die Menschen mit Handicap im Kreis dürfte diese Nachricht freuen.