Das Pflegeheim in Xanten bietet autistischen Kindern ein Zuhause. Die Corona-Pandemie hat ihnen jetzt haltgebende Strukturen genommen.
Xanten/Alpen. Mit Strohhut und Sonnenbrille das Strandgefühl in den heimischen Garten holen – die Menschen im Micado lassen sich von dem für sie besonders gefährlichen Coronavirus nicht die Laune verderben. „Wir sagen uns: Wir machen jetzt eben Urlaub im Micado“, erzählt Maria Steffan, die Geschäftsführerin des Wohnheims für autistische Menschen.
Dabei haben es die Bewohner derzeit nicht leicht. Das Coronavirus hat ihnen den Alltag genommen. Und damit die Struktur, die eigentlich so wichtig für sie ist, ihnen Halt gibt. Gewöhnlich geht es fünfmal die Woche zum Arbeiten in die Behindertenwerkstatt, mittwochs zum therapeutischen Reiten und Schwimmen oder hin und wieder ins Restaurant.
Ein feines Gespür mitbringen
Stattdessen dürfen die Bewohner gerade nur für kurze Spaziergänge die Einrichtungen in Xanten und Alpen verlassen. Viel Zeit werde nun im großen Garten verbracht, sagt Steffan, zusammen gegrillt, musiziert und gespielt. In der Art wie das Micado die schwere Zeit bewältigt, spiegeln sich die Prinzipien der Pflege wider. Wie bei dem gleichnamigen Spiel mit den Holzstäbchen, so Steffan, müsse man geduldig sein und ein feines Gespür mitbringen.
Vor 25 Jahren hat sie das Micado in Xanten eröffnet. Aus einer Notlage heraus. Ihr Sohn hatte ein halbes Jahr nach der Kinderimpfung autistische Züge entwickelt, begleitet von täglichen Krampfanfällen, schildert Steffan. Staatlich anerkannter Impfschaden. Die Ärzte gaben ihrem Sohn nicht viele Jahre zu leben. Er habe immer wieder schlimme Phasen gehabt. Die Pflege eines autistischen Menschen, sie koste viel Kraft, betont die Mutter: „Sie müssen ihn 24 Stunden im Auge behalten.“
Mit der Krankheit vertraut machen
Sie stellte sich schon bald die Frage: „Wie soll das gehen, wenn ich nicht mehr jung und gesund bin?“ Steffan begab sich auf die Suche nach einer Einrichtung, die helfen würde. Aber es gab keine. Keine, die auf Autisten und ihre besondere Wahrnehmung, ihre Sensibilität und ihr Verhalten spezialisiert war. Autismus war ein neues Phänomen, das erst in den 80er-Jahren als Krankheit anerkannt wurde. Weil sie ihren Sohn verstehen wollte, hatte sich Steffan mithilfe von Büchern und Fortbildungen mit der Krankheit über Jahre vertraut gemacht.
Sie musste selbst tätig werden, auch, um anderen überforderten Eltern zu helfen. Als ihr Sohn zwölf Jahre alt war, bekam sie die Betriebserlaubnis. Acht Kinder zwischen zehn und 14 Jahren wurden in Xanten aufgenommen. Steffan hatte offenbar einen Nerv getroffen. Wegen der großen Nachfrage eröffnete sie fünf Jahre später in Alpen das zweite Wohnheim mit zwölf, später 15 Plätzen.
Die eigenen Perspektive einbringen
Aus den Kindern sind inzwischen Erwachsene geworden. Sie leben auf jeweils 3000 Quadratmetern in Wohngruppen. Wie eine große Familie. Etwa 40 Mitarbeiter unter Leiterin Anissa Schuchert kümmern sich um sie. Die Betreuer kommen aus verschiedenen Fachbereichen. Sie sind Heilpädagogen, Heilerziehungspfleger, Krankenpfleger oder Sozialpädagogen, die ihre eigenen Perspektiven einbringen. „Alle lernen voneinander“, sagt Steffan.
Ein autistischer Mensch könne häufig seine Gefühle und Bedürfnisse nicht richtig mitteilen, gleichzeitig käme vieles falsch an und werde stärker empfunden. Das Gehirn arbeite anders. Je nach Typ könnten aggressive oder depressive Züge auftreten, dazu epileptische Anfälle. „Wir versuchen nicht, aus ihnen gesunde Menschen zu machen, wir akzeptieren ihre Eigenarten“, betont Steffan. Wie die des Bewohners, der zwei Stunden nach Verzehr seinen Joghurtbecher aus dem Müll kramt, um ihn in Streifen zu schneiden.
Ein lebenswertes Umfeld geboten
Ein verbreitetes Symptom der Krankheit ist die fehlende Selbständigkeit. Ein Bewohner habe ein enormes Computerwissen und Zahlengedächtnis, „würde aber wohl vor dem vollen Kühlschrank verhungern“, sagt Steffan. Daran könne man arbeiten. Die Bewohner werden dazu erzogen, nach und nach weniger Hilfe beim Waschen und Anziehen zu benötigen. Manch einer müsse gar nicht mehr unterstützt werden. Steffan: „Je mehr Struktur desto besser kommen sie klar und fühlen sich angekommen. Dann sind sie wieder frei für Neues.“ An das sie behutsam herangeführt werden. War ein Besuch im Restaurant früher wegen der überwältigenden Reize undenkbar, ist er heute Höhepunkt für die Bewohner. Eltern sollten ihre autistischen Kinder früher in eine professionelle Einrichtung geben, wünscht sich Steffan.
Dort könnten sie verstanden werden und bekämen ein lebenswerteres Umfeld geboten, in dem sie sich durch die richtige Betreuung entwickeln könnten. Doch obwohl sie über Pflegesätze finanziert werden, gibt es zu wenige Plätze. Im Pflegeheim Micado ist die Warteliste lang. Alle 14 Tage besuchen die Bewohner ihre Eltern. Das fällt derzeit aus. „Abends wollen sie dann zurück, und kommen strahlend hereinmarschiert“, sagt Steffan. Denn das Micado ist ihr Zuhause geworden. Auch Steffans Sohn lebt noch hier.