Xanten. Helmut Sommer war neun Jahre alt, als Jagdbomber 1945 sein Elternhaus in Schutt und Asche legten. Später wurde er Zeuge der Dom-Zerstörung.
Manchmal hört er es noch in seinen Träumen. Das schrille Sirenengeheul, das einen Fliegerangriff ankündigte. Es war der 10. Februar 1945, ein kalter Samstag, und die Jagdbomber der Alliierten waren im Anflug auf Xanten. Helmut Sommer kauerte mit Nachbarn, Freunden und alten SS-Männern im Gewölbekeller der Berufsschule gegenüber seinem Elternhaus an der Niederstraße. Schon in den Tagen und Nächten zuvor gab’s mehrmals Fliegeralarm, doch diesmal war die Lage besonders bedrohlich.
„Viele Nachbarn beteten, schrien oder weinten. Auch ich weinte bitterlich, hatte schreckliche Angst, weil meine Eltern nicht bei mir waren“, erinnert sich Sommer. Vater Willibrord und Mutter Maria hatten ihn vorgeschickt, sie müssten noch schnell ein paar Sachen zusammensuchen und kämen dann nach. Doch sie kamen nicht und Bombe um Bombe fiel. „Es krachte und bebte. Dann plötzlich ein kurzer Heulton und ein Sprengsatz schlug direkt vor dem Kellerfenster ein.“ Die Wucht der Explosion erfasste den Neunjährigen und schleuderte ihn in einen Kohlehaufen. Als er zu sich kam, war er von einer Schicht aus Staub und Kohle bedeckt, jedoch unverletzt geblieben.
Familie sucht bei Verwandten in Lüttingen Zuflucht
Dann stoppte das Heulen und Krachen und es ertönte das Signal, dass der Angriff vorüber sei. Der Ausgang aus dem Keller war verschüttet und musste erst freigeräumt werden, doch durch die Trümmer hindurch hörte der Xantener die besorgte Stimme seiner Mutter. „Helmut, Helmut!“, rief sie, und Erleichterung durchflutete ihn. Seine Eltern hatten überlebt. Sie waren in den hauseigenen Keller geflüchtet. Das Haus war stark beschädigt worden, aber wie durch ein Wunder hatte der Kartoffelkeller standgehalten.
Xanten war strategisch wichtig
Xanten lag strategisch zwischen den Truppen der Alliierten und der letzten verbliebenen Brücke über den Rhein bei Wesel. Ihre Panzer mussten befestigte Straßen nutzen, um nicht im Schlamm zu versinken. All diese Wege führten durch Xanten.
Weil Hitler die Brücke nicht aufgab, wurden in Xanten Flaks und Soldaten vermutet. Der Dom war ein wichtiger Spähposten. Um Widerstand für die eigenen Bodentruppen zu verhindern, wurden dann Luftangriffe geflogen.
Als der Junge wieder Tageslicht erblickte und seine Mutter in die Arme schließen konnte, erkannte er seine Heimatstadt kaum wieder. Viele Gebäude waren zerstört, andere brannten „und an der Friedenseiche lag ein zerfetztes Pferd, der Anblick war schrecklich“. Die Familie Sommer packte einige verbliebene Habseligkeiten auf einen Leiterwagen und zog gen Lüttingen, wo sie bei der Schwester der Mutter Zuflucht fand. Vor allem dem Vater, Lehrer an der Volksschule und Geschäftsführer des städtischen Lichtspielhauses, war klar: Es würden weitere Angriffe folgen.
Helmut Sommer: „Wir haben alle geweint“
In den Tagen danach folgte eine Welle weiterer Attacken, die gravierendste am 21. Februar. Ein Bombenhagel prasselte auf Xanten nieder, die Sommers beobachteten das schlimme Schauspiel von Lüttingen aus. Als sich die Rauchschwaden verzogen, offenbarte sich das Ausmaß der Zerstörung: „Mein Vater sagte: ,Schau, Helmut, der Dom!’“ Der Nordturm war verschwunden. Noch am 4. Februar hatte Helmut Sommer dort seine Kommunion gefeiert. „Wir haben alle geweint“, erinnert er sich. Es war der Moment, in dem die Familie realisierte: Nichts wird mehr so, wie es einmal war.
Als die Kanadier Ende Februar in die Stadt einzogen, gab einer dem dürren Jungen Brot mit Büchsenfleisch. „Wir haben nicht auf die Alliierten geschimpft. Als es vorbei war, war das für uns wie eine Erlösung. Hitler hatte den Krieg ja begonnen.“ Mit halbem Ohr hätte er immer wieder mitbekommen, wie seine Eltern im Privaten ihren Unmut über den „komischen Mann“ geäußert hätten, der sie in diese Situation gebracht und Helmuts Bruder Heinrich auf dem Gewissen hatte. Er war 1942 vor Moskau gefallen.
Familie flüchtet erneut - diesmal nach Bayern
Sie hatten kein Zuhause mehr, wenig zu essen und die Gefechte am Rhein gingen weiter. Die Familie floh ins fränkische Burgkunstadt, wo Helmuts ältere Schwester Anna bereits auf einem Bauernhof untergekommen war. Ihr Mann, Fahrer beim Arbeitsdienst, organisierte einen Lkw, der sie nach Bayern brachte. Dort erlebte der Xantener das Ende des Krieges.
Im Sommer kehrte die Familie ins zerstörte Xanten zurück. Sie kam zunächst mit anderen Familien im heutigen Rathaus unter, damals Lehrerbildungsanstalt. Nach drei Jahren konnte der Vater eine Wohnung besorgen und war maßgeblich dafür verantwortlich, dass schon bald an der Volksschule wieder unterrichtet werden konnte. Helmut Sommer wurde später Küster des wiederaufgebauten Doms. Noch heute gibt der 84-Jährige zweimal die Woche Stadtführungen - damit die Geschichte seiner Heimatstadt nicht in Vergessenheit gerät. Er ist einer der letzten Zeitzeugen der Zerstörung Xantens.