Oberhausen. Die Oberhausener Gewerkschaften krempeln die traditionelle 1.-Mai-Kundgebung zum „Tag der Arbeit“ um - um mehr Menschen anzulocken.
Die Traditionen der Arbeitergeschichte und Gewerkschaftsbewegung - wer, wenn nicht die Gewerkschaften selbst, sind da mit Herz und Leidenschaft eng verbunden. Umso mehr verblüfft, dass die Oberhausener Gewerkschafter ausgerechnet in der einstigen Industriearbeiter-Stadt Oberhausen ein zentrales Element gewerkschaftlicher Tradition am 1. Mai über Bord kippt: Erstmals seit vielen Jahrzehnten haben die Organisatoren der Kundgebung den Demonstrationszug von Bürgern, Vereinen, Betriebsräten und Einzelgewerkschaftern quer durch die Innenstadt gestrichen.
„Wir wollen etwas Neues wagen und auf dem Ebertplatz konzentriert ein Fest für alle Familien an einem Ort bieten“, begründet Tamara Hengstermann vom DGB der Region Mülheim, Essen und Oberhausen (MEO) diesen Schritt der Oberhausener. Und auch auf der zentralen Kundgebung ändert sich der Schwerpunkt: Statt eines bekannten Gastredners wird ab 12.30 Uhr auf dem Ebertplatz am Theater Oberhausen und vor dem Ebertbad eine Talkrunde über ein Thema gestartet, das nicht nur viele Eltern berührt: die Situation an unseren Schulen.
Es diskutieren Ayla Çelik, Landesvorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW, der Oberhausener Oberbürgermeister Daniel Schranz und weitere Gewerkschafter auf der Bühne. Moderiert wird das Gespräch von Linda Krohn, Lehrerin und Mitglied der Fachgruppe Grundschule der GEW Oberhausen. Nicole Jagowski von der GEW Oberhausen verspricht, in der Diskussion auf die konkreten Schwächen und Stärken des Oberhausener Schul- und Kita-Systems einzugehen. „Eine gute Bildung gehört für uns zu einer gerechten Gesellschaft“, ist die Stoßrichtung des DGB. „Sie ist für uns die Grundlage für kulturelle, ökonomische, demokratische und soziale Teilhabe. Bildung ist außerdem auch ein Schlüssel zur Bekämpfung des Fachkräftemangels.“
Die zentrale Kundgebung auf dem Ebertplatz beginnt eigentlich schon um 11 Uhr mit Musik, aufgelegt von einem DJ. Um 12 Uhr wird die Veranstaltung von Iris Bitter und Jörg Schlüter vom DGB-Stadtverband offiziell eröffnet. Nach der Bildungs-Diskussion geht es dann mit Musik und einem Gespräch mit Vertrauensleuten aus Oberhausener Betrieben weiter.
Neben diesem inhaltlichen Programm gibt es auf dem Ebertplatz viele Informationsstände der Gewerkschaften sowie weiterer Vereine und Verbände aus Oberhausen. Auch in diesem Jahr beteiligen sich die „Die Falken“ (SJD) mit einem großen Angebot für Kinder an der Veranstaltung.
Nur noch die Hälfte der Beschäftigten genießen die Bindung des Tarifvertrages
Natürlich fehlt nicht der Schwerpunkt der Kundgebung zur Lage auf dem Arbeitsmarkt - das zentrale DGB-Motto für diesen 1. Mai lautet: „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit.“ Dabei geht es dem DGB um ein widersprüchliches Phänomen: Zwar gibt es in Deutschland trotz Wirtschaftsschwäche kaum eine Branche, die nicht darüber klagt, dass Fachkräfte, vor allem junge, fehlen. Doch zugleich beobachtet der DGB seit Jahren, trotz aller gewerkschaftlichen Mahnungen, dass die Flucht der Arbeitgeber aus Tarifverträgen eher zunimmt als abnimmt: Haben in den 90er Jahren noch rund 85 Prozent der Beschäftigten von einer Tarifbindung profitieren können, waren es Anfang der 2000er Jahre nur noch knapp 68 Prozent. Heute sind gerade mal die Hälfte (52 Prozent) der Beschäftigten in einer Tarifbindung.
„Die Firmenchefs wollen in ihren Häusern ganz alleine bestimmen. Dabei schaden sie sich selbst: Sie unterschätzen, wie sehr sich die Einstellung zur Arbeit der Jüngeren im Vergleich zu der Boomer-Generation der 60er Jahre gewandelt hat“, sagt DGB-Regionsgeschäftsführer Dieter Hillebrand. „Am Anfang machen die jungen Erwachsenen das vielleicht noch mit, doch dann sind sie schnell weg, wenn sie sehen, dass es in Betrieben mit Tarifbindung bessere Arbeitsbedingungen gibt.“ Gehalt, Sicherheit, Flexiblität bei den Arbeitszeiten, Home-Office, der Job muss Sinn machen, aber nicht einen Großteil der Lebenszeit auffressen - all das muss stimmen, wenn man motivierte junge Erwachsene in seinem Betrieb beschäftigen will.
DGB-Motto am 1. Mai: Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit
Im Unterschied zu den Generationen um die Jahrtausendwende schätzen die heutigen nach Beobachtung von Hillebrand stärker die solidarische Ausrichtung. „Wir erleben eine Rückbesinnung darauf, dass man als Arbeitnehmer vor allem gemeinsam etwas erreichen kann.“ Allein im vergangenen Jahr habe der DGB aufgrund von Tarifstreitigkeiten über 430.000 neue Mitglieder gewonnen. Nach Auffassung des Oberhausener DGB bieten branchenweite Tarifverträge nicht nur die Basis für einen fairen Wettbewerb der Unternehmen in der sozialen Marktwirtschaft, sondern sichern einen guten Teil der Wünsche von Arbeitnehmern ab: Lohn, Freizeit, Arbeitszeit, Sicherheit.
Doch: „Immer mehr Arbeitgeber stehlen sich aus ihrer sozialen Verantwortung gegenüber ihren Beschäftigten“, wundert sich Hillebrand. „Deshalb brauchen wir jetzt eine Tarifwende.“ Auf den Kundgebungen zum 1. Mai machen sich alle DGB-Gewerkschaften mit der Forderung bemerkbar, die Tarifbindung zu erhöhen. „Denn sie bringt viele Vorteile für die Beschäftigten. Mehr Geld, bessere Arbeitsbedingungen, sichere Zukunftsaussichten, mehr Lebensqualität.“