Oberhausen. Zum zweiten Mal nach der Premiere erleben Zuschauer das grandios ausgestattete Drama „Zeit für Freude“ – über Beziehungen und Liebe.
Sind die Dinos bei Grundschülern eigentlich immer noch der Hit? Wenn ja, wüssten Viertklässler sicher auf Anhieb, welche Triceratopse, Flugsaurier oder Urzeitfische Franziska Isensee zu diesen spektakulären Masken inspiriert hatte, mit denen im Theater Oberhausen am Freitag die deutschsprachige Erstaufführung von „Zeit für Freude“ eröffnete. Kinder wären allerdings enttäuscht gewesen, dass diese Hingucker-Requisiten schon bald beiseite gelegt wurden und nur noch wie bleiche Grabsteine aus dem Erdmittelalter auf dem Bühnenboden lagen. Und dass ein dreieinhalbstündiger Theaterabend die Aufmerksamkeitsspanne von Zehnjährigen überfordern würde – geschenkt.
Es ist ja selbst angesichts des erwachsenen Publikums erstaunlich, wie sich bei dieser Inszenierung von Intendantin Kathrin Mädler die Altersgruppen erfreulich mischten – und dass anscheinend kaum jemand im gut gefüllten Großen Haus nach anderthalb Stunden in der Pause „aufgab“. Denn das exakt ausgezirkelte Drama des Norwegers Arne Lygre, der zum Schlussapplaus selbst auf die Bühne trat, war durchaus sperrig. Und die Stilisierungskunst der Regisseurin und ihrer kongenialen Chefausstatterin setzte noch bildmächtige Rätsel „on top“. Schließlich erlebten die Zuschauer eigentlich zwei fast alltägliche Situationen – und nicht etwa Abenteuer der Paläontologie.
Doch die Auftritte der Saurier – ähnlich unvermittelt und rätselhaft wie im Familiendrama „The Tree of Life“ des ikonischen US-Filmemachers Terrence Malick – signalisieren wie ein gemeißelter Fingerzeig: Hier wird mehr verhandelt als europäische Durchschnittsleben mit ihren kleinen Trennungstragödien und kaum größeren Versöhnungskomödien. Man kann so einen in erdgeschichtliche Dimensionen gewuchteten Hinweis allzu prätentiös finden – eine Augenweide und ein staunenswerter Beweis für das Können der Gewerke „hinter der Bühne“ ist’s allemal.
Schließlich durchschreiten die alsbald wieder menschlichen Dinos den ersten Akt in opulentesten Roben mit schwingenden Reifröcken, jeder Faltenwurf so exzentrisch wie exquisit. Solche selten gesehenen Kostüme stehen nicht nur für Etikette – sie halten die Figuren auch auf Abstand: ein genialischer Coup, der die Dramatikerworte von Freude, Nähe und Miteinander augenfällig konterkariert. Und das komplizierteste Tannenzapfen-Kleid trägt Anke Fonferek in ihrer plaudersüchtigen Mutterrolle. Um sie kreiselten die sieben weiteren Mitspieler eines wieder mal hochklassig aufspielenden Ensembles. Für sie brandete der Schlussapplaus am lautesten auf: hochverdient.
Hinter dem Wortschwall die Angst vor Verlassenheit
Anke Fonferek gehörte auch jener zentrale Satz, der fast unterging in Arne Lygres steilem Wort-Massiv: „Es ist so fein gewebt, dieses Leben. Die Maschen können jederzeit reißen.“ Denn eigentlich lauert hinter dem mütterlichen Wortschwall der Wiedersehensfreude stets die Angst vor Verlassenheit. Regina Leenders als Tochter darf gekonnt an dieser Fassade kratzen: Bei ihr markiert jede der sparsamen Gesten eine weitere Nuance zwischen Ironie und Sarkasmus. Die tiefsten Empfindungen in Dialogtexte zu gießen – diesem Anspruch misstraut Arne Lygre zutiefst.
Das „reine Gefühl“, wenn man so will, repräsentieren die Lieder von Robert Schumann. Doch ausgerechnet Ekaterina Isachenko, die als klassische Liedsängerin sonst Abendkleider quasi als Berufskleidung trägt, steckt zwischen den fahlen Prunkgewändern in einem dunklen Overall, als wäre sie als Tatortreinigerin ausgeschickt: „Wie bald, ach wie bald kommt die stille Zeit / Da ruhe ich auch“.
Mit dem überraschend angekündigten Abschied des Sohnes Aksle endet der erste Akt. Und so vehement wie er sich selbst beschwört „Es ist kein Verschwinden, das böse endet“ – muss man fast um sein Leben fürchten. Der zweite Akt wird dann unvergleichlich kuscheliger: Tim Weckenbrock erscheint nun statt als Aksle als dessen jäh verlassener Partner David – und zwar im bodenlangen Zottelfell. Statt in abgezirkelten Bewegungen auf leerer Bühne drängt sich das Ensemble nun in dessen Mitte auf einem kleinen Podest: Wie frierende Höhlenbewohner rückt man zusammen, streicht sich zärtlich-scheu über den Pelz und feiert eine flauschige Party.
Keine Antworten, aber interessante Fragen
Das Personal des ersten Aktes lässt Arne Lygre in exakter Spiegelsymmetrie wiederkehren: Das leidvoll zerstrittene Paar (Susanne Burkhard und Klaus Zwick) sind nun zwei Frischverliebte. Und die junge Witwe mit den erwachsenen Söhnen ihres Mannes (Nadja Bruder, Daniel Rothaug und Khalil Fahed Aassy), die sich zuvor zischend ermahnen müssen, sich „zusammenzureißen“, sind nun die tröstende Freundesclique.
Ist das die Wahl? Zwischen verrüschter Etikette und zivilisatorischer Verlogenheit einerseits und andererseits einer zotteligen Nähe, die schon fast zum gemeinsamen Flöhesuchen degeneriert? Antworten sollte man von diesem stupenden Maskenspiel wohl nicht erwarten. Aber einige interessante Fragen.
Arne Lygres „Zeit für Freude“ ist – nahezu ungekürzt – eine knapp über dreistündige Aufführung (inklusive Pause). Weitere Vorstellungen folgen am Freitag, 27. Oktober, Samstag, 11. November, und Mittwoch 29. November, jeweils um 19.30 Uhr.Karten kosten von 11 bis 23 Euro, 0208-8578-184, per Mail an service@theater-oberhausen.de.