Oberhausen. Holger Hein tauscht sich mit anderen Betroffenen über Tinnitus aus. Was viele von ihnen gemeinsam haben: Sie stellen ihr Wohlergehen hintenan.

Holger Hein hört es schon lange, das Pfeifen in seinem Ohr. Erst nur rechts, dann kommt irgendwann das linke Ohr hinzu. Für ihn ist der Ton seit seinem 16. Lebensjahr ein ständiger Begleiter. Er hat gelernt, damit zu leben. Doch das schafft nicht jede Person, die an einem Tinnitus leidet. „Viele können sich nicht daran gewöhnen, dass das Geräusch ein Leben lang bleibt“, weiß Holger Hein.

Der 49-Jährige ist Heilpraktiker, hat vorher als Manager gearbeitet. Das Pfeifen in seinem Ohr – vergleichbar mit dem Ton, den ein Rauchmelder abgibt, nur nicht so laut – hört er jeden Tag zu jeder Zeit. Mal lauter, mal leiser. Besonders heftig machen ihm seine Ohren zu schaffen, als er seine Diplomarbeit abgibt. „Da hatte ich meinen ersten Hörsturz“, erinnert sich Holger Hein. Es folgen weitere.

In einer Tinnitus-Tagesklinik lernen Betroffene unter anderem Entspannungstechniken

Äußere Ursachen für einen Tinnitus gibt es in der Regel nicht. Er könnte mit einem verspannten Nacken oder Kiefer zusammenhängen. Meist ist der Grund aber ein anderer: Stress. „Ich sehe täglich, wie Menschen sich überlasten“, sagt der Heilpraktiker und appelliert: „Es ist wichtig, auf sich selbst zu achten.“

Ist der Tinnitus erst einmal da, wird das noch wichtiger. In Tageskliniken lernen Betroffene unter anderem, sich Gutes zu tun, Entspannungsübungen und sich viel zu bewegen, damit der Körper Glückshormone ausschüttet. Zurück im Alltag ist all das aber schnell wieder vergessen oder es fehlt einfach die Zeit. Hein weiß: „Der Aufenthalt in einer Tagesklinik ist nicht einmalig.“

Tinnitus-Betroffene können sich ausgeliefert fühlen und ohnmächtig

Das ständige Piepen, Rauschen oder Pfeifen im Ohr hindert viele Betroffene daran, sich zu konzentrieren. Manche haben Schlafprobleme, bekommen Panik. „Wenn man nachts aufwacht, ist es schreiend laut“, erklärt Holger Hein. Betroffene können sich dann ausgeliefert fühlen und ohnmächtig. Und manche zweifeln vielleicht sogar an sich selbst. Denn außer ihnen selbst hört ja niemand das Geräusch, das sie so quält.

Holger Hein hat lange Zeit als Manager gearbeitet. Heute hat er eine Praxis für psychologische Beratung in Oberhausen-Sterkrade.
Holger Hein hat lange Zeit als Manager gearbeitet. Heute hat er eine Praxis für psychologische Beratung in Oberhausen-Sterkrade. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Das ist auch ein Grund, warum der Austausch unter Betroffenen so wichtig ist. „Man muss sich nicht erklären“, weiß der Oberhausener. Man werde ernst genommen. Darum hat Holger Hein eine Selbsthilfegruppe gegründet. Mitte August haben sich die rund zehn Mitglieder zum ersten Mal getroffen. Die Resonanz war hoch, berichtet Sabine Bahr von der Selbsthilfe-Kontaktstelle in Oberhausen.

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In der Vorstellungsrunde ist ihr aufgefallen: Viele der Personen, die einen Tinnitus haben, können sich schlecht von äußeren Erwartungen abgrenzen. Manche sind perfektionistisch, andere wollen dem Leistungsdruck gerecht werden, sie stellen sich selbst und das eigene Wohlergehen hintenan. Selbstfürsorge und psychische Gesundheit spielen derzeit eine immer größere Rolle. Die Beratungsanfragen zu diesem Themenbereich hätten stark zugenommen, berichtet die 46-Jährige.

Sabine Bahr vom Paritätischen berichtet, dass sie immer mehr Beratungsanfragen zum Themenbereich psychische Gesundheit erreichen.
Sabine Bahr vom Paritätischen berichtet, dass sie immer mehr Beratungsanfragen zum Themenbereich psychische Gesundheit erreichen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Holger Hein weiß, mit welchen Herausforderungen Betroffene zu kämpfen haben. Auch wenn er selbst lange Zeit gar nicht wusste, dass das, was er hört, ein Tinnitus ist. „Ich hab gedacht, das ist normal: Wenn es leise ist, hört man ein Piepen“, erinnert er sich. Mittlerweile hat er sich an das Geräusch gewöhnt. Er vergleicht es mit einer tickenden Uhr an der Wand. Auch dieses Geräusch blende man irgendwann aus. Was hingegen nicht funktioniere, sei aktives Weghören.

Für die Tinnitus-Selbsthilfegruppe in Oberhausen gibt es eine Warteliste

Ihm hilft es, zu meditieren, rauszugehen in die Natur, sich auf andere Geräusche einzulassen, wie das Rascheln der Blätter, auf die er tritt. Er achtet darauf, dass es ihm gut geht. „Sie sind der wichtigste Mensch in Ihrem Leben“, zitiert er eine Kollegin. Andere Betroffene lädt er ein, sich der Selbsthilfegruppe anzuschließen oder selbst eine zu gründen. Der Bedarf ist da. Schon jetzt gibt es eine Warteliste, sagt Sabine Bahr.

Wer sich auf die Warteliste setzen lassen möchte, kann sich bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle melden unter 0208 3019 620 oder eine Mail schreiben an . Die Treffen finden jeden zweiten Donnerstag im Monat in Oberhausen-Sterkrade statt.