Oberhausen. Das Abitur am Gymnasium ist das Maß aller Dinge. Die Hochschulreife ist auch am Berufskolleg möglich. Wer geht dahin? Drei Bildungsgeschichten.

Schaut man aus den Fenstern, sieht man einen verrosteten Förderturm. Das Rad dreht sich weiter, immer weiter. Kohle gefördert wird hier schon lange nicht mehr, dafür Schüler. Im Raum 452, auf der vierten Etage, sitzen 15 Schülerinnen und Schüler und lernen von Dr. Thomas Stachel den Begriff „Ehre“ kennen. Wie passend.

Ehre. Wer es im deutschen Bildungssystem schafft, dem gebührt Ehre. Das Abitur ist das Maß aller Dinge, die Anmeldezahlen in Oberhausen steigen in die Höhe. Und die Schülerschaft ist ehrgeiziger denn je: 2022 hatte jeder dritte Abiturient einen Notendurchschnitt, der besser war als 2,0.

Oberhausen: Drei Berufskollegs bieten das Abitur an

Neben den Gesamtschulen und Gymnasien bieten aber auch die Berufskollegs das Abitur an. Seit 2019 können Schülerinnen und Schüler am Hans-Sachs-Berufskolleg die allgemeine Hochschulreife mit einem technischen Schwerpunkt ablegen. Am Hans-Böckler-Berufskolleg ist dasselbe mit kaufmännischem Schwerpunkt möglich. Das Käthe-Kollwitz-Berufskolleg legt den Fokus auf den Gesundheitsbereich.

Wer das Berufskolleg besucht, hat im Leistungssystem Schule den Ruf als Bildungsverlierer. Olaf Gernandt sieht im Berufskolleg aber vielmehr die Chance, seinen Weg zu finden. „Wir können allen Schülerinnen und Schülern etwas anbieten“, sagt der stellvertretende Schulleiter. Das berufliche Gymnasium schaffe eine Alternative zum Gymnasium. Die Zahlen geben seinen Eindruck von einer „Zwiebel“ als Bildungssystem wieder. Der große Bauch, das sind 2000 Schülerinnen und Schüler am Berufskolleg, die nach ihrem Weg suchen. Die Spitze, das sind 60, die das berufliche Gymnasium besuchen. „Die wenigsten wissen mit 16, was sie später machen wollen“, sagt er.

Sieht im Berufskolleg vor allem eine Chance: Olaf Gernandt, stellvertretender Schulleiter des Hans-Sachs-Berufskollegs.
Sieht im Berufskolleg vor allem eine Chance: Olaf Gernandt, stellvertretender Schulleiter des Hans-Sachs-Berufskollegs. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Wir haben drei Bildungsgeschichten exemplarisch aufgeschrieben.

Lisha Ewich, 16

Die Oberhausenerin besuchte die Friedrich-Ebert-Realschule. Die Schule bietet kein Abitur an, aber ihre Noten sind gut genug dafür. Lisha Ewich bleiben drei Möglichkeiten: Das Gymnasium, die Gesamtschule und das Berufskolleg. „Ich will etwas in Richtung Handwerk machen, am besten Kfz-Mechatronik“, sagt sie. Die Gymnasien und Gesamtschulen bieten ihr nicht genug Praxis. Sie sagt: „Viele Schulen bringen einem nicht bei, was eigentlich im späteren Leben nötig ist – wie eine Steuererklärung.“ Sie empfindet das Schulsystem als unfair, weil es den Fokus auf Dinge legt, die später nicht mehr gebraucht werden. Lisha Ewich entschied sich deshalb für das Berufskolleg. Zu den Fächern gehören Ingenieurwissenschaften und Technische Informatik. Das Hans-Sachs-Berufskolleg hat wie die anderen Berufskollegs Werkräume, in denen die Schüler praktisch arbeiten.

Alexander Lopez, 18

Alexander Lopez will Philosophie studieren.
Alexander Lopez will Philosophie studieren. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Vor zwei Jahren folgte der Neu-Oberhausener seinem Vater nach Deutschland. Der Vater arbeitet seit sechs Jahren in Deutschland. „Während der Pandemie habe ich keine guten Chancen mehr für mich gesehen“, sagt er. Zunächst landete er in einer Integrationsklasse. Er erfuhr, dass am Hans-Sachs-Berufskolleg ein mexikanischer Lehrer unterrichtet und es 3D-Drucker in den Werkstätten gibt. „Ich wollte Ingenieur werden.“ Aber Lopez kam auch in Kontakt mit anderen Fächern. Die Berufskollegs werben damit, dass sie jedem Schüler Chancen eröffnen. Der Philosophie-Kurs von Thomas Stachel hat Eindruck gemacht. „Jetzt weiß ich, dass ich Philosophie studieren möchte. Ich bin doch eher ein theoretischer Mensch.“

Esad Tiryaki, 16

Esad Tiryaki will das Abitur schaffen – das war seinem Vater nicht möglich.
Esad Tiryaki will das Abitur schaffen – das war seinem Vater nicht möglich. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Der Oberhausener wuchs in einer türkischen Familie auf. Deutsch wurde nur wenig gesprochen. „Das war von Anfang an ein Nachteil“, sagt er. Er musste eine andere Sprache lernen, während andere Kinder sie schon konnten. Nach der Anne-Frank-Realschule ging er zum Berufskolleg, „um zu erreichen, was mein Vater nicht konnte. Ich wollte das für ihn machen.“ In zwei Jahren will er das Abitur machen. Er ist froh über den Weg, den er eingeschlagen hat. „Ich bin nicht der Typ fürs Gymnasium. Schule ist für mich eine soziale Sache. So jemand wie ich würde nicht zum Gymnasium passen“, sagt er und fügt hinzu: „Ich fühle mich wohl hier.“