Oberhausen. Ute und Gerd Brunow haben Pflegekindern 30 Jahre lang in Oberhausen ein Zuhause auf Zeit gegeben. Was sie dabei so alles erlebten...

Was Kinder im Alter bis zu fünf Jahren erleben, prägt ihr ganzes späteres Leben. Langzeitstudien aus England belegen: Nichts kann daran etwas ändern. Doch auch dies ist eine Tatsache: Begegnet einem traumatisierten Kind auch nur ein Mensch, der es wirklich gut mit ihm meint, hat es dennoch die Chance auf ein gelingendes Leben. Mehr als 30 Jahre lang leisteten Ute und Gerd Brunow genau dies für ihre mehr als90Pflegekinder. Die Oberhausener behielten immer die Nerven, auch wenn die Aktionen einiger weniger Pflegekinder sie schon mal sprachlos machten. An die meisten ihrer Schützlinge aber erinnern sie sich voller Freude. Im Laufe der Jahre haben sie ein ganzes Sammelwerk aus Dankesbriefen erhalten. Doch jetzt verabschieden sie sich in den Ruhestand.

Eigentlich wollten Ute und Gerd Brunow immer eigene Kinder haben. Doch das Schicksal entschied anders. „Ich konnte keine bekommen“, erzählt die heute 62-Jährige offen. Also beschloss das Ehepaar, ein Kind zu adoptieren. Nach vier Jahren Wartezeit war es soweit, Sohn Marius kam 1987 in die Familie, damals neun Tage alt. Nach zwei weiteren Jahren kam der zweijährige André dazu. „Seine Mutter hatte ihn eineinhalb Jahre lang einfach in seinem Gitterbett liegen gelassen, er hatte nichts als seine Milchflasche mit einem abgeschnittenen Schnuller, durch die er Brei trank“, erinnert sich Ute Brunow. André kam als Pflegekind mit einem hohen Frühförderbedarf. „Meine Schwiegermutter hatte Angst davor“, sagt die Oberhausenerin.

Das Jugendamt in Oberhausen stand ihnen zur Seite

Aber nur, weil die künftige Oma befürchtet habe, dass sie auch dieses Kind allzu sehr ins Herz schließen könnte und dann vielleicht doch wieder gehen lassen müsste. „Mein Mann und ich haben daran gar nicht gedacht.“ Als die Mutter von André nach kurzer Zeit wieder schwanger wurde, behielt das Jugendamt die Sache eng im Blick. Nach der Geburt dauerte es nicht lange und auch René wurde ein Pflegekind der Familie Brunow. Routine kehrte ein und damit ein Alltag aus Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie.

Weil die Mitarbeiterin der Agentur für Arbeit und der Fliesenleger ihren Familienjob aber so gut bewältigten, bat das Oberhausener Jugendamt sie schon bald, sich auch als Bereitschaftspflegestelle zur Verfügung zu stellen. „Nach einigem Zögern sagten wir zu“, erinnert sich Gerd Brunow. 94 Kindern gaben die beiden in den letzten 30 Jahren so ein Zuhause auf Zeit, mal nur für einen Tag, mal zwei Jahre lang. Wie viele andere Pflegeeltern auch, nahmen Brunows zunächst am liebsten kleinere Kinder auf. Doch bei Sonja machten sie erstmals eine Ausnahme. Ursprünglich sollte die 14-Jährige nur drei Monate bleiben, um dann in eine Erziehungsstelle vermittelt zu werden. Wenige Tage vor ihrem Auszug aber sagte das Mädchen: „Ich bleibe.“ Brunows hielten dagegen: „Kind, wir haben doch gar keinen Platz mehr.“

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Sie bauten zwar gerade ihr neues Haus, doch auch dort waren alle Zimmer bereits belegt. „Nur unter der Terrasse, da gab es noch einen Raum, das sollte eigentlich mein Hobbykeller werden“, erzählt Ute Brunow schmunzelnd. Sonja fuhr zur Baustelle, sah sich das dort schon angelegte Rohbau-Zimmer an und entschied: „Das nehme ich.“ Brunows konnten nicht anders, sie willigten ein. Jahre später adoptierten sie das Mädchen. „Viele unserer Pflegekinder wären später am liebsten ebenfalls geblieben.“ Doch nun gab es wirklich keinen Platz mehr. Ein großer Trost: „Fast alle konnten später gut bei anderen Pflegefamilien untergebracht werden.“ Zu vielen haben Brunows bis heute Kontakt. „Sie rufen uns nach Jahren noch an.“

Viele Nächte am Bahnhof oder im Krankenhaus verbracht

Doch es gibt auch diese Erinnerungen: „an unzählige Nächte bei der Polizei, am Bahnhof, im Krankenhaus.“ Missbrauch, Verwahrlosung, Gewalterfahrungen: Die Narben in den Seelen der Kinder machten sich bemerkbar. Doch egal was kam: Brunows blieben ruhig, suchten immer das Gespräch, legten viel Wert auf gemeinsame Rituale und einen geregelten Tagesablauf. Es dauerte ein wenig, „aber die Kinder saugten all das dankbar in sich auf“.

Gerd Brunow (63) räumt ein: „Nur einmal sind wir echt sprachlos gewesen.“ Und das kam so: Die Kurzzeitpflege-Kinder erhielten nie einen Schlüssel für die Wohnung. „Aber meine Mutter wohnte oben im Haus, sie öffnete ihnen immer die Tür“, erzählt Ute Brunow. Doch an jenem Abend sei sie nicht da gewesen, die Rückkehr eines Pflegekindes habe auch gar nicht angestanden und Brunows selbst waren auf einer Feier. Plötzlich aber meldete sich eine der Kurzzeit-Pflegetöchter per Handy. „Ich bin schon wieder zu Hause.“ Auf die Frage, wie sie denn dort hineingekommen sei, kam diese entwaffnende Antwort: „Meiner Schwester war kalt, deshalb habe ich die Terrassentür mit einem Stein eingeschmissen.“

Jonathan Will, Leiter des Pflegekinderdienstes der Caritas.
Jonathan Will, Leiter des Pflegekinderdienstes der Caritas. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Aufregende Zeiten. Doch jetzt soll langsam Ruhe einkehren, wollen sich die Oberhausener mehr um ihre acht Enkelkinder kümmern, einer Kurzzeitpflege-Tochter ein wenig Halt geben und einem inzwischen 18-jährigen Pflegesohn auch in den nächsten drei Jahren noch beistehen. Aus ihren vier Kindern sind längst „wundervolle Erwachsene und Eltern geworden“. Alle sind berufstätig, meistern ihr Leben: Sonja als Sozialarbeiterin, André als Busfahrer, René als Hufschmied und Marius als Hochbautechniker. „Das zu erleben, ist unser größtes Glück.“

Diese Voraussetzungen müssen Pflegeeltern mitbringen

Pflegeeltern benötigen ein erweitertes Führungszeugnis, ein ärztliches Attest, eine gesicherte häusliche und wirtschaftliche Situation und mindestens einen Hauptschulabschluss.

Der langsame Rückzug der Oberhausener Familie Brunow macht dem Pflegekinderdienst der Caritas aber schon jetzt schwer zu schaffen. „Wir suchen deshalb so schnell wie möglich dringend wieder Einzelpersonen, Paare oder Familien, die sich vorstellen könnten, vor allem auch in die Bereitschaftspflege von Pflegekindern einzusteigen“, sagt Jonathan Will, Leiter des Pflegekinderdienstes.

Bundesverdienstmedaille erhalten

Ein wichtiger Teil des Lebens von Ute und Gerd Brunow war auch die Gründung der Oberhausener Interessengemeinschaft für Adoptiv- und Pflegeeltern (OIG). Für Oberhausen und Umgebung ist diese Gemeinschaft einzigartig.

Ute Brunow ist dort seit 1993 im Vorstand, viele Jahre war sie die erste Vorsitzende. DieVerdienstmedaille am Bande der Bundesrepublik Deutschlandwurde ihr zur Anerkennung der ehrenamtlichen Arbeit verliehen. Der Verein feiert in diesem August sein 30-jähriges Bestehen.

Aktuell gibt es in Oberhausen nur noch acht Pflegefamilien in der Bereitschaftspflege mit insgesamt elf Plätzen. „Außerdem haben wir im Moment acht Kinder und Jugendliche in der Kurzzeitpflege untergebracht sowie zwei in einer Entlastungsfamilie.“ 261 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene werden darüber hinaus in einer Vollzeitpflege betreut, davon sind 132 in der Verwandten- und Netzwerkpflege untergebracht.

Will erläutert: „Wir begleiten und beraten Pflegeväter und Pflegemütter, unterstützen aber auch die Pflegekinder und bleiben mit den leiblichen Eltern im Gespräch.“ Weitere Informationen gibt es unter www.caritas-oberhausen.de/kinder-jugend-familie/pflegekinderdienst, Kontakt zu Jonathan Will unter der Rufnummer 0208 - 94 04 451.