Mülheim. Was Petra 1972 im Kurheim erlebte, erinnert an Folter und belastet sie bis heute. „Man hat‘s überlebt.“ Die Mülheimerin sucht andere Betroffene.
Der Entlassungsbericht des Kinderkurheims in Bad Sassendorf, gestempelt am 8. April 1972, ging an die Eltern. Petra Schiemann besitzt ihn noch, ein einziges Blatt. „Gute Gewichtszunahme“, steht dort handschriftlich vermerkt. „Frisches Aussehen.“ „Haltung gebessert.“ „Guter Kurerfolg.“ Ihr Aufnahmegewicht, 36,3 kg, hat sich innerhalb von sechs Wochen auf 39,1 kg erhöht.
Auch die „Verordnungen“ während der Kur sind aufgelistet, darunter Solebäder, Liegekuren, Haltungsturnen, Höhensonne. Die Mülheimerin war damals elf Jahre alt. Die Frühlingswochen im „Haus Hamburg“ der Krankenversicherung DAK waren die schlimmste, einschneidendste Zeit ihres Lebens. Petra Schiemann sagt: „Man hat‘s überlebt.“ Die heute 63-Jährige ist ein sogenanntes Verschickungskind. Ein ähnliches Schicksal erlitten unzählige andere Frauen und Männer.
Mülheimerin fuhr am 25. Februar 1972 zur Kinderkur - ganz alleine
Ihre Mutter brachte sie am 25. Februar 1972 zum Mülheimer Hauptbahnhof, wo der Zug nach Bad Sassendorf startete. Petra fuhr ganz alleine. Kein anderes Kind, das sie kannte, war dabei. Nach ihrer Erinnerung hatte der Mülheimer Hausarzt die Kur verordnet. „Angeblich, weil ich so blass war.“ Ihre Eltern fügten sich und gaben ihr Kind in die Obhut anderer, rückblickend muss man sagen: in deren Gewalt.
Fast drei Kilo Gewichtszunahme in sechs Wochen, „weil wir immer essen mussten und uns nie bewegen durften“, sagt Petra Schiemann. Die erzwungenen Liegepausen im Ruhesaal empfand sie als Folter. „Wir mussten nur an die Decke starren. Das vergesse ich nie. Das macht einen verrückt.“ Bei den medizinischen Untersuchungen hätten die Kinder sehr oft nackt antreten müssen. Dem Kurarzt, der auch ihren Entlassungsbericht unterzeichnete, sei später sexueller Missbrauch nachgewiesen worden, so die Mülheimerin.
„Wir mussten auch das essen, was wieder rauskam“
Massenhaft Kinder seien mit ihr im „Haus Hamburg“ untergebracht gewesen. In Räumen voller Betten. Schränke gab es nur auf den Fluren. „Wir durften nie draußen spielen oder herumlaufen Es ging nur darum, so viel wie möglich zu essen. Der Teller musste leer werden. Wir mussten auch das essen, was wieder rauskam.“ Erbrochenes. An sehr viel Haferschleim könne sie sich erinnern. Und an Spinat, mit reichlich Butter. „Alles war fett, fett, fett.“ Wer Essen verweigerte, sei geschlagen worden.
Nachts im Schlafsaal hätten die Kinder nur auf einer Seite liegen, sich nicht umdrehen dürfen. Zwischendurch habe die Aufpasserin ihnen mit einer Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet, sie aufgeschreckt, „wie eine Schlaffolter“. Es sei streng verboten gewesen, nachts zur Toilette zu gehen. Kinder, die nicht anhalten konnten, seien geschlagen und bloßgestellt worden.
Strafe fürs Flüstern: eine Nacht in der dunklen Besenkammer
Petra Schiemanns schrecklichste Erinnerung ist eine Nacht in der stockdunklen Besenkammer, schlaflos stehend zwischen Putzutensilien, auf 50 mal 50 Zentimetern. Dort wurde sie eingesperrt von der Aufseherin, die Nachtschicht hatte, die Kinder nannten sie „die Feuerwache“. Petra hatte einem anderen Mädchen etwas zugeflüstert, doch im Schlafsaal herrschte striktes Redeverbot. „Es war nur ganz leise, aber die Feuerwache muss direkt hinter der Tür gestanden haben. Kommt reingeschossen, reißt mich aus dem Bett, zack, schleift mich über den Flur, schließt mich in der Besenkammer ein. Ich hatte da drinnen Todesangst.“
Auch an „schlimme Erniedrigungen“ erinnert sie sich, besonders durch eine Betreuerin: „Die hat einen fertiggemacht, und man konnte sich nicht wehren. Für mich war das eine Sadistin.“ Einmal habe diese Frau sie gezwungen, ein bestimmtes Kleid anzuziehen: „,Du ziehst jetzt das an, das ist hässlich, du bist hässlich!‘ Dabei war das mein Lieblingskleid, von meiner Mutter handgestrickt...“ Doch die Kinder hätten fast immer das Gleiche getragen. „Das war denen egal.“ Die Unterwäsche sei nur einmal pro Woche gewechselt worden. „Mit Hygiene war da nichts - eine Katastrophe.“
Nach heißen Solebädern eiskalt abgeduscht
Ausnahme waren die Solebäder in großen Zubern, gefüllt mit heißem Wasser. „Und danach haben sie uns eiskalt abgeduscht. Wie mit einem Wasserwerfer. Das war gemein. Eklig. Ich kann bis heute nicht kalt duschen.“
Kontakte oder gar Freundschaften zwischen den Kindern konnten nicht entstehen, erinnert sich die Mülheimerin. Von ihren Familien waren sie während der Kur weitgehend isoliert. „Man hatte ja kein Handy, und es gab auch keine Telefonzelle.“ Die Kinder seien völlig hilflos gewesen. „Frecherweise mussten wir Briefe schreiben. Dabei standen die Aufseherinnen immer hinter uns.“ Bei der kleinsten kritischen Notiz gab es Schläge. Pakete, die die Eltern schickten, seien abgefangen und weggenommen worden.
Verein arbeitet Kinderverschickungen auf - Millionen sind betroffen
Die Zahl der Betroffenen, die zwischen 1950 und 1990 in Kinderkuren geschickt wurden, ist gigantisch. Nach Angaben des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V.“ (AKV-NRW) waren es rund 1,8 Millionen Mädchen und Jungen allein aus und nach Nordrhein-Westfalen, bundesweit mindestens zehn Millionen Kinder. Nach der sechswöchigen Kur - ohne Eltern - sollten sie gesund nach Hause kommen, doch bei vielen geschah das Gegenteil, berichtet der Verein, der diese Geschehnisse erforscht, Betroffene zusammenbringt und durch das Landesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales gefördert wird.
„Viele Betroffene berichten von traumatischen Erfahrungen, die ihr ganzes Leben geprägt haben.“ Gewalt, Essenszwang, nächtliche Toilettenverbote, Medikamentenmissbrauch, sogar sexueller Missbrauch. Viele hätten Jahrzehnte lang geschwiegen, so die Erfahrung des Vereins, im Glauben, sie seien die Einzigen, denen so etwas passiert ist.
Erinnerungsskulptur wird in Bad Sassendorf eingeweiht
Nicht nur bei Petra Schiemann sind die Erinnerungen mit dem Ort Bad Sassendorf verbunden. Das Heil- und Solebad in Südwestfalen war nach Recherchen des AKV-NRW eines der Hauptziele für Kinderkuren in NRW mit mehreren großen Heimen. Im Kurpark vor der Kinderheilstätte Bad Sassendorf, die heute als Kinderfachklinik von den Johannitern betrieben wird, soll am Dienstag, 9. April, eine Erinnerungsskulptur eingeweiht werden. Die Künstlerin Heike Fischer-Nagel hat ein „Wundmal“, geschaffen, welches an das Leiden der Kinder erinnert. Betroffene werden bei der Präsentation dabei sein, berichtet Michaela Stricker, Projektleiterin beim AKV-NRW. Auch die Mülheimerin Petra Schiemann ist nach Bad Sassendorf gereist.
Mit der Geschichte des Solekurheims „Haus Hamburg“, das von 1960 bis 1987 von der Krankenkasse DAK betrieben und geleitet wurde, befasst sich seit 2019 eine Betroffenengruppe. Das Hauptgebäude ist längst abgerissen. Insgesamt konnten dort 96 Kinder in vier Gruppen untergebracht werden. „Die Heimaufsicht wurde vom Landesjugendamt Münster wahrgenommen“, heißt es auf der Homepage des Vereins AKV-NRW. Petra Schiemann sagt: „Da war keine Aufsicht. Gar nicht. Die konnten machen, was sie wollten.“
Mülheimerin vertraute sich ihren Eltern an, Beschwerde blieb erfolglos
Nach ihrer Rückkehr nach Hause im April 1972 habe sie ihren Eltern von ihren Erlebnissen erzählt, sagt die Mülheimerin. „Sie haben mir geglaubt. Meine Mutter hat ja auch gesehen, dass ich mich verändert hatte.“ Ihre Eltern hätten sich beschwert - wo genau, weiß sie nicht mehr - seien damit jedoch nicht durchgekommen. „1972 galt die Aussage eines Kindes gar nichts. Ich war ja auch ganz alleine. Heute würde man Kinderpsychologen einschalten.“
Die DAK Gesundheit hat vor einiger Zeit den Historiker Hans-Walter Schmuhl beauftragt, die Kinderkuren früherer Jahrzehnte aufzuarbeiten. Auch Petra Schiemann wurde für das Forschungsprojekt als Zeitzeugin befragt. Die Studie wurde im April 2023 in Berlin vorgestellt. Der Vorstandsvorsitzende der Krankenkasse, Andreas Storm, sagte: „Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, alle, die in den Kinderkuren Leid erfahren haben, im Namen der DAK-Gesundheit von ganzem Herzen um Entschuldigung zu bitten.“
Viele ehemalige Kurkinder haben keine konkreten Erinnerungen mehr
Petra Schiemann kritisiert, sie habe bis heute weder eine persönliche Nachricht noch irgendeine Entschädigung von der DAK bekommen. „Die warten ab, bis wir alle tot sind“, meint sie bitter. Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz habe sie nicht, da keine Erwerbsminderung von 50 Prozent vorliege. Mit anderen ehemaligen Kurkindern aus dem „Haus Hamburg“ ist sie über eine WhatsApp-Gruppe in Kontakt, die etwa 35 Mitglieder hat. Nach ihrem Eindruck ist sie die Einzige, die sich im Detail an ihre Erlebnisse erinnert. „Die anderen haben eine Art Amnesie. Die meisten sagen: Ich kann mich nicht erinnern. Die wissen nur: Es war die Hölle.“
Gruppe für ehemalige Verschickungskinder in Mülheim geplant: Betroffene gesucht
Die Mülheimerin möchte in ihrer Heimatstadt eine Selbsthilfegruppe für ehemalige Verschickungskinder gründen, sich mit anderen austauschen. Interessierte können sich an den Betroffenenverein wenden, per Mail an: Projekt@akv-nrw.de, Stichwort: SHG Mülheim. Der Verein bietet auch eine Beratungshotline und Telefonsprechstunden an. Ausführliche Infos auf: https://kinderverschickungen-nrw.de.
„Diese sechs Wochen waren für mich wie sechs Jahre“, sagt Petra Schiemann. Sie belasten die 63-Jährige bis heute. Ihren erlernten Beruf als Drogistin musste sie aufgeben aufgrund von Rückenschmerzen, die sie auch auf ihre seelischen Verletzungen zurückführt. Sie schulte um zur Reiseverkehrskauffrau, ist mittlerweile in Rente. Sie habe an Depressionen gelitten, nehme Medikamente und sei in psychologischer Behandlung wegen einer Angststörung und Panikattacken. Enge sei für sie eine Tortur, sagt Petra Schiemann, Aufzüge, volle Supermärkte. Eng war es im „Haus Hamburg“, in der Besenkammer.
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