Mülheim. Raymund Krause steigt auf in den erlauchten 100er-Club. Ein Jahrhundert der Umbrüche liegt hinter ihm - und eine Jugend im Nationalsozialismus.
Raymund Krause ist 2024, so sagt er, „ein Sonntagsgeburtstagskind“. Denn am Sonntag, 17. März, feiert er mit seinen Kindern, Enkeln, Urenkeln und Freunden seinen 100. Geburtstag. Mit rund 50 anderen Mülheimerinnen und Mülheimern gehört er dann zur Generation 100 plus. Da kommt auch Bürgermeister Markus Püll zum Gratulieren.
Die früheste Erinnerung des promovierten Juristen reicht ins Weltwirtschaftskrisenjahr 1930 zurück. „Wir wohnten an der Aktienstraße, nahe der Grenze Borbeck. Mein Vater Willy hatte als Soldat im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren und war Lehrer an der Evangelischen Volksschule Mellinghofer Straße, die heute als Grundschule den Namen Astrid Lindgren trägt. Er rannte morgens immer dort hin. Und ab meinem ersten Schultag nach Ostern 1930 musste ich mitrennen“, berichtet Krause.
Der kleine Raymund war der einzige Erstklässler ohne Schultüte
Er erinnert sich, „dass meine Eltern mir keine Schultüte auf meinen ersten Schulweg mitgaben, weil sie das angesichts vieler Kinder aus armen Elternhäusern peinlich fanden“. Resultat: Der kleine Raymund war der einzige Erstklässler ohne Schultüte. „Die bekam ich aber später daheim von meiner Mutter“, schildert der Jubilar sein I-Dötzchen-Happyend.
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„Meine Mutter Maria Mathilde war zehn Jahre lange gerne Lehrerin an der Evangelischen Volksschule Mellinghofer Straße. Sie unterrichtete dort als erste Turnlehrerin, in kurzen Hosen. Doch 1923 musste sie als verheiratete Mutter und Mitverdienerin als Frühpensionärin aus dem Lehramt ausscheiden, um ihre Stelle für einen Kriegsheimkehrer zu räumen, der als Alleinverdiener eine Familie zu versorgen hatte“, erzählt Krause. „Sie hat nie über ihr Schicksal geklagt. Aber ich glaube, dass sie darunter gelitten hat, nicht mehr unterrichten zu können“, sagt ihr Sohn 100 Jahre später.
NS-Zeit in Mülheim: Samstags gab‘s auf dem Schulhof staatstragende Reden
Raymund durfte ab 1934 das Staatliche Gymnasium an der Von-Bock-Straße besuchen, das seit 1974 den Namen des Mülheimer Künstlers Otto Pankok trägt. „Dafür mussten meine Eltern monatlich 35 Reichsmark als Schulgeld bezahlen“, erinnert sich Krause.
Er erlebte eine Jugend im Nationalsozialismus. „Ich war damals unpolitisch“, sagt Krause, wenn er über seine Zeit in der Sport-Hitler-Jugend und deren Training auf dem Sportplatz an der Südstraße oder über den wöchentlichen „Staatsjugendsamtag“ berichtet. Immer wieder samstags mussten sich Krause und seine Mitschüler auf dem Schulhof staatstragende Reden anhören und anschließend alle drei Strophen des Deutschlandliedes singen.
Als Bordfunker 30 Einsätze mitgemacht - und eine Bruchlandung überlebt
„Im November 1938 habe ich in der Innenstadt die von den Nazis beschmierten Schaufenster jüdischer Geschäfte gesehen. Das hat mich abgestoßen“, sagt Krause. Nach dem Abitur im Kriegsjahr 1942 - „Das Militär als Erziehungsanstalt der Nation“ lautet das Thema seines Abituraufsatzes - wollte er in Marburg Jura studieren. Doch die Wehrmacht war schneller und zog ihn wenige Tage nach dem Ende seiner Schulzeit zur Luftwaffe ein. „Ich habe als Bordfunker 30 Einsätze mitgemacht und eine Bruchlandung überlebt“, erinnert sich Krause an die Kriegsjahre 1944/45.
Der Zweite Weltkrieg ging für ihn im Mai 1945 als amerikanischer Kriegsgefangener in einem bayerischen Wiesenlager und als Landarbeiter auf einem nahegelegenen Hof zu Ende. Im Herbst 1945 ließen ihn die Amerikaner nach Mülheim heimkehren.
Zum Hamstern ins Münsterland - mit Kartoffeln im Rucksack zurück nach Mülheim
„Mein Elternhaus war ausgebombt. Aber ich konnte bei zwei Tanten im Dichterviertel unterkommen und bei einem dort ansässigen Werkzeughändler Geld verdienen. Ich fuhr ich in überfüllten Zügen zum Hamstern ins Münsterland und kam mit einem Rucksack voller Kartoffeln wieder heim“, beschreibt Krause den harten Nachkriegsalltag.
Eltern und Geschwister sah er erst 1947 wieder, als sie aus der kriegsbedingten Landverschickung im Osten Deutschlands heimkamen. „Meine sechs Jahre jüngere Schwester, die zur jungen Dame geworden war, habe ich nach fünf Jahren Trennung nicht mehr wiedererkannt“, erinnert sich Krause.
Erst Rechtsanwalt in Mülheim, später Richter in Mülheim, Düsseldorf und Duisburg
Nach einer vorbereitenden Ausbildung zum Rechtspfleger und einem Praktikum beim Mülheimer Ordnungsamt, das 1947 auch als „Marktpolizei“ gegen überhöhte Preise vorgehen musste, konnte er ab dem Wintersemester 1947/48 in Bonn Rechtswissenschaften studieren und nach seinem 2. Staatsexamen in den frühen 1950er Jahren zunächst als Rechtsanwalt in Mülheim und später als Richter in Mülheim, Düsseldorf und Duisburg arbeiten.
Sein Wirtschaftswunder erlebte der junge Jurist, Ehemann und dreifache Familienvater, als er sich 1957 für 3000 Mark einen schwarzen VW-Käfer kaufen konnte. Unvergessen bleiben ihm aber auch seine frühen Wiedergutmachungs- und Entschädigungsfälle, die er als junger Richter mitverhandeln musste.
„Ich habe mich nie mit dem NS-System identifiziert“
Darunter war auch der Fall der Hinterbliebenen von Elfriede Löwenthal. 1895 in Mülheim geboren, war die an der Bahnstraße wohnende jüdische Lehrerin zwischen 1915 und 1933 an der Volksschule Mellinghofer Straße eine Kollegin seiner Eltern. 1942 wurde sie ins Ghetto Theresienstadt deportiert und später mutmaßlich in Auschwitz ermordet. Hat er als junger Nachkriegsrichter angesichts des Schicksals der Kollegin seiner Eltern Schuld empfunden? „Nein“, sagt Krause und fügt hinzu, „weil ich mich nie mit dem NS-System identifiziert habe.“
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