Mülheim. Vor 50 Jahren starb Valentin Tomberg. Warum ein in St. Petersburg geborener Este nach 1945 die Mülheimer Volkshochschule wiederaufgebaut hat.
Hildegunde Nuth (verstorben 2020) wäre fast 100 Jahre alt geworden, sie war die dienstälteste Dozentin der Mülheimer Volkshochschule. Bis zu ihrem 90. Lebensjahr unterrichtete die promovierte Anglistin an der VHS und auch beim Katholischen Bildungswerk Englisch. 1946 gehörte sie zu den ersten Dozentinnen, die der Gründungsleiter der VHS, Valentin Tomberg, im Auftrag der britischen Militärregierung für die Erwachsenenbildung gewann.
„Viele Mülheimer wollten damals Englisch lernen, um den Papierkrieg mit der britischen Regierung besser bewältigen zu können“, erinnerte sich Nuth später. Mülheim war damals Teil der britischen Besatzungszone. Und der damals 46-jährige Valentin Tomberg stand als Bildungsoffizier im Dienst der britischen Armee, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch kein britischer Staatsbürger, sondern staatenlos war. Denn Tombergs Heimatland Estland, für das er in den Niederlanden als Diplomat gearbeitet hatte, war infolge des Zweiten Weltkriegs Teil der Sowjetunion geworden.
Mülheimer sollten zu Demokraten „umerzogen“ werden
Der Mann, der Rechtswissenschaften, Theologie und Philosophie studiert hatte, wurde durch einen befreundeten britischen Offizier im Dezember 1945 nach Mülheim vermittelt. In der Stadt, die damals nicht nur materiell, sondern auch menschlich und moralisch in Trümmern lag, brauchte die britische Militärregierung einen mehrsprachigen und gesellschafts- wie geisteswissenschaftlich qualifizierten Mann, der die 1919 gegründete und 1925 wieder eingestellte Volkshochschule im britischen Sinne einer demokratischen Umerziehung der vom Nationalsozialismus geprägten Deutschen zu bewerkstelligte.
Tomberg war ihr Mann. Er hatte nicht nur die für sie richtigen Fächer studiert, sondern sprach fließend Russisch, Estnisch, Niederländisch, Deutsch, Englisch und Französisch. Unterstützt vom damaligen Oberbürgermeister Edwin Hasenjäger und dem damaligen Pfarrer von St. Mariae Geburt, Johannes Heinrichsbauer, konnte Tomberg auch prominente Vortragsredner für die neue Mülheimer VHS gewinnen. Der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker und der Münsteraner Religionsphilosoph Heinrich Scholz gehörten ebenso zum Referentenkreis wie Tombergs Kölner Doktorvater und Freund, der Rechtswissenschaftler Ernst von Hippel.
Tomberg, der neben seiner Aufbautätigkeit an der Mülheimer VHS als Lehrbeauftragter an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Universität Aachen Ethik und Rechtswissenschaft lehrte, legte im Sinne seiner Arbeitgeber beim Programm für die Volkshochschule einen geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Schwerpunkt. Unter seiner Leitung konnte die neue VHS jährlich etwa 1000 Mülheimer und Mülheimerinnen mit ihren Bildungsangeboten erreichen.
Mülheimer Bergmänner brachten Brot und Kohle mit
Edwin Hasenjäger bescheinigte Tomberg „eine entschieden christlich-katholische Haltung, ohne dabei intolerant zu sein“, verbunden mit „einer universellen Bildung und einem starken Interesse am Völkerrecht und der Sicherung des Weltfriedens.“ Hildegunde Nuth, die Tomberg rückblickend als einen „sehr zurückhaltenden, freundlichen und durchgeistigten Menschen“ beschrieben hat, erinnerte sich gerne an die Bergmänner unter ihren Kursteilnehmern. Denn sie konnten aufgrund ihrer Schwerstarbeiterzulagen auch schon mal Brot, Kohle und Glühbirnen für ihre Kurskollegen mitbringen.
Im Sommer 1948 verließ der in Mülheim hochgeschätzte Valentin Tomberg die Stadt in Richtung England, um dort eine Dolmetscherstelle bei der BBC anzunehmen. Obwohl man ihn gerne an Rhein und Ruhr gehalten hätte, entschied sich Tomberg für England und die britische Staatsbürgerschaft. Denn er sah dort vor allem für seinen Sohn langfristig eine bessere Lebensperspektive. Außerdem fürchtete er, dass er seine berufliche Existenz verlieren könnte, sollte sich die britische Armee aus Deutschland zurückziehen. Das dies 1994 geschehen und sein Heimatland Estland 1991 seine nationale Souveränität zurückgewinnen sollte, konnte Valentin Tomberg 1948 nicht ahnen – und er sollte es auch nicht mehr erleben.