Mülheim. Familie Rosenbaum zählte zur Machtübernahme der Nazis zu den 630 Menschen in Mülheims Jüdischer Gemeinde. Eine Nachfahrin bricht das Schweigen.

Mit der Machtübernahme der NSDAP begann vor 90 Jahren auch in Mülheim die Judenverfolgung. Auch Inge Rosenbaums Vater Arthur war damals Teil der aus etwa 630 Menschen bestehenden Jüdischen Gemeinde. Ihre Mutter Mathilde Lindemann war evangelisch getauft. Als Tochter eines jüdischen Vaters galten Inge Rosenbaum und ihre drei Jahre ältere Schwester Hanne Lore als Halbjüdinnen.

Inges letzter Wohnort war die Eppinghofer Straße 134, wo 2019 auf der Grundlage der Recherchen der Stolperstein AG des Gymnasiums Broich ein Stolperstein verlegt wurde. Arthur Rosenbaum betrieb ein Brotgeschäft in der Sandstraße. Er war vor 1933 als unabhängiger Sozialdemokrat und als Kommunist politisch aktiv. Von 1931 bis 1933 saß er für die KPD im Stadtrat und organisierte eine Erwerbslosentafel. Ab März 1933 leistete er Widerstand gegen die NS-Diktatur und wurde mehrfach inhaftiert. Inges Mutter Mathilde übernahm das Brotgeschäft. 1938 starb die Schwester Hannelore mit nur 14 Jahren an den Folgen einer Diabetes-Erkrankung.

Arthur Rosenbaums Gestapo-Akte (1936).
Arthur Rosenbaums Gestapo-Akte (1936). © Familie Rosenbaum
Die Mülheimer Juden Arthur und Mathilde Rosenbaum mit ihren Töchtern Hanne Lore (links) und Inge.
Die Mülheimer Juden Arthur und Mathilde Rosenbaum mit ihren Töchtern Hanne Lore (links) und Inge. © Familie Rosenbaum | Familie Rosenbaum

Mülheimer Familie erlitt stetig verschärfende Verfolgung und Ausgrenzung

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Wie alle jüdischen und christlich-jüdischen Familien, waren die Rosenbaums einer sich stetig verschärfenden Verfolgung und Ausgrenzung ausgesetzt, die ihnen ihre soziale und wirtschaftliche Existenzgrundlage entzog. Deshalb flohen die Rosenbaums 1939 ins belgische Exil. Doch nach dem deutschen Einmarsch in Belgien wurde Arthur von der Geheimen Staatspolizei verhaftet und ins Konzentrationslager Auschwitz verschleppt. Dort wurde er 1943 im Alter von 44 Jahren ermordet. Damit teilte er das Schicksal der 270 Mülheimerinnen und Mülheimer, die dem Holocaust zum Opfer fielen.

300 jüdische Mülheimer konnten sich nach 1933 ins Exil retten. 20 überlebten den Holocaust als Versteckte oder als KZ-Häftlinge im Machtbereich der Nationalsozialisten. Inge Rosenbaum überlebte mit ihrer Mutter im Exil in Brüssel.

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In England konnte die Mülheimerin Inge Rosenbaum ein neues Leben anfangen

1946 heiratete sie den englischen Soldaten Thomas Charlesworth und zog nach England, wo sie mit ihm zwei Töchtern (Monique und Lorie) das Leben schenkte. Ihre Mutter besuchte ihren Bruder in Marokko. Dort lernte sie ihren zweiten Ehemann Heinz Steinberg kennen, der aus Berlin stammte. Mit ihm führte sie eine lange und glückliche Ehe. In England konnte Inge ein neues Leben anfangen. Doch sie war traumatisiert und konnte über ihr Schicksal in ihrem Heimatland und ihrer Heimatstadt zeitlebens nicht sprechen. Tom und Inge ließen sich 1958 scheiden. Später heiratete sie einen Franzosen und lebte in Mülheims Partnerstadt Tours, wo sie 2019 verstorben ist.

Inge Rosenbaum Charlesworth 1958 in Brüssel mit Ihren Töchtern Lorie (links) und Monique.
Inge Rosenbaum Charlesworth 1958 in Brüssel mit Ihren Töchtern Lorie (links) und Monique. © Familie Rosenbaum | Familie Rosenbaum

Inge Rosenbaums Tochter, die in England lebende deutsch-englische Drehbuchautorin und Schriftstellerin Monique Charlesworth, hat unter anderem in Hamburg Germanistik und Romanistik studiert. Jetzt hat sie die Lebensgeschichte ihrer Mutter, mit Hilfe der Mülheimer Stadtarchivarin Annett Fercho, recherchiert und daraus ein Buch mit dem Titel „Motherland/Mutterland“ gemacht, das sie am 16. Oktober um 18 Uhr im Haus der Stadtgeschichte der interessierten Öffentlichkeit vorstellen wird.

„Meine arme Mutter schämte sich, deutsch zu sein“

Zum lebenslangen Schweigen ihrer 2019 verstorbenen Mutter sagt Monique Charlesworth, die seit dem Brexit auch einen deutschen Pass hat: „Meine arme Mutter schämte sich, deutsch zu sein, und hatte Angstgefühle, die sie nicht überwinden konnte. Sie hatte ihr ganzes Leben lang das Gefühl, eine Bürgerin zweiter Klasse zu sein. Für sie war das Politische etwas ganz Persönliches.“

Hanne Lore und Inge Rosenbaum (rechts) 1934 beim Rollschuhfahren am Mülheimer Rathausmarkt.
Hanne Lore und Inge Rosenbaum (rechts) 1934 beim Rollschuhfahren am Mülheimer Rathausmarkt. © Familie Rosenbaum | Familie Rosenbaum

Doch versteht sie, warum ihre Mutter so viel verheimlichte: „Schweigen ist die sehr menschliche Reaktion in allen Kriegen auf Schrecken, die buchstäblich unaussprechlich sind. Vielleicht war in diesem komplexen Wirrwarr von Schuld, individuellem Leid, Verantwortungsverweigerung und Grauen Schweigen die einzige Option, weil sie ihre Kinder vor Wissen schützen wollte, das sie selbst nicht ausreichend verarbeitet hatte?“

Was die Tochter Inge Rosenbaums heute in Deutschland beeindruckt, „ist eine enorme Anständigkeit, Empathie und Freundlichkeit und die Bereitschaft, auch schwierige Fragen nicht vom Tisch zu wischen, sondern auch Wiedergutmachung zu leisten“, die sie bei ihren Recherchen auch im Stadtarchiv und bei den Mitgliedern der Stolperstein AG erlebt hat. Deshalb ist Monique Charlesworth heute „sehr stolz“ auf ihren deutschen Pass, der ihre Familie und sie wieder zu deutschen Landsleuten gemacht hat.

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