Mülheim. Not macht erfinderisch: Weil in Mülheim Erzieher für die OGS fehlen, bietet die Stadt nun eine neuartige Ausbildung an – mit Bachelor-Abschluss.
Für Chiara Lenz (27), Matthias Lickfeld (35) und Jolina Engel (21) beginnen die Tage ab jetzt ziemlich früh und sind eng getaktet: Schon ab 7.30 Uhr sitzen sie mit ihren Klassenkameradinnen und -kameraden im Berufskolleg. Die drei gehören zu den 26 Menschen, die als Erste in Mülheim eine Ausbildung zur Erzieherin beziehungsweise zum Erzieher im Bereich OGS absolvieren und dabei Tag für Tag den Wechsel zwischen Theorie und Praxis mitmachen.
So gesehen zwei Fliegen mit einer Klappe, wie Miriam Ruppert, Bereichsleiterin für Beratung am Berufskolleg Stadtmitte, erklärt: „Die Studierenden profitieren davon, dass sie ihre praktischen Erlebnisse parallel mit theoretischem Wissen unterfüttern können, und umgekehrt.“ Was so sinnvoll klingt, erfordert viel Disziplin – von den Studierenden, aber auch von allen anderen Beteiligten. Die vier täglichen Unterrichtsstunden enden um 10.50 Uhr, von dort geht es in den jeweiligen Offenen Ganztag, in dem die Studierenden eingesetzt sind.
Mülheimer Ausbildungsgang könnte bald schon ausgeweitet werden
„Hier liegt der entscheidende Unterschied“, so Stefanie Merz, die als Bildungsgangsleitung auch andere Klassen mit dem Schwerpunkt Erziehung betreut. „Normalerweise werden die Studierenden im Drei- und Zwei-Tages-Wechsel ausgebildet.“ Praxis und Theorie wechseln sich hier im Block ab und nicht, wie in der neuen Klasse, täglich. Davon, so Georg Jöres von der Caritas, profitieren nicht zuletzt auch die Träger als Betreiber der Offenen Ganztage. Acht der 26 neuen Studierenden gehören zur Caritas, sechs weitere zur Diakonie, der Rest zur Jugendhilfe Essen. „Es ist auf jeden Fall vorstellbar, dieses Konzept auch auf weitere Städte auszuweiten“, sagt Benedikt Maas von der Diakonie.
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Bekanntlich mangelt es den Trägern an Fachkräften, mit Blick auf den ab 2026 in Kraft tretenden Rechtsanspruch hatten die Träger unisono Alarm geschlagen und vor einer Katastrophe gewarnt. Mit den nun täglich an der OGS-Betreuung teilnehmenden Studierenden des Berufskollegs sei zumindest etwas Milderung gegeben, das Problem an dieser Stelle aber längst nicht gelöst. „Natürlich benötigen wir eine langfristige Lösung, aber da wird es eben mehrere Ansätze brauchen, und das hier ist einer“, so Jöres.
Mülheimer Erzieher-Ausbildung lockt Studierende aus Rheinland-Pfalz
Immerhin: Der neuartige Studiengang – am Ende steht neben der staatlichen Anerkennung zum Erzieher beziehungsweise zur Erzieherin bei Erfolg ein sogenannter Bachelor Professional Sozialwesen – lockt auch junge Menschen aus anderen Städten nach Mülheim. Eine davon ist 27-Jährige Chiara Lenz. Die Neu-Mülheimerin stammt ursprünglich aus Rheinland-Pfalz, „aus der Nähe von Neuwied“.
Nach ihrem abgebrochenen Tourismusstudium („das war nicht meins“) arbeitete Lenz zunächst in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete, dann als Integrationshelferin an einer Grundschule. „Da habe ich gemerkt, dass ich in dem Bereich arbeiten will.“ Der Praxisbezug, so die 27-Jährige, sei ihr extrem wichtig gewesen. „Deswegen ist es auch Mülheim geworden. Ich bin beim Googeln drauf gestoßen.“
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Eine etwas andere, aber nicht minder spannende Biografie bringt Matthias Lickfeld mit. Sein Alter, 35 Jahre, macht ihn zu einem Unikum in der neuen Studienklasse, seine Erfahrung im OGS-Bereich zum prädestinierten Erzieher. Dabei studierte Lickfeld bis zuletzt auf Lehramt, kam aber „irgendwie nicht in die Pötte“. Die Caritas als langjähriger Arbeitgeber („ich habe seit meinem Zivildienst immer mindestens ein paar Stunden an der OGS gearbeitet“) riet ihm zum neuen Studium. „Das Lehramtsstudium war mir zu theoretisch“, so Lickfeld. „Hier kann ich praktisch arbeiten, das passt viel besser zu mir.“
Mülheimer Absolventen können nicht nur in der OGS arbeiten
Ähnlich sieht das Jolina Engel. Die 21-Jährige stand nach dem Abitur in einer Findungsphase, wie sie sagt. Das Ergebnis: „Die Arbeit an einer Grundschule passt zu mir.“ Nach einem Praktikum fasst Engel diesen Entschluss und entscheidet sich für die Praxisintegrierte Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin. „Man verbindet Erzieher immer mit Kita, aber ich will eben gerne mit Grundschulkindern arbeiten. Der Job verbindet das Soziale mit Teilen des Lehrberufs.“
Anders, als man nun vielleicht vermuten könnte, besteht nach abgeschlossener Ausbildung auch die Möglichkeit, nicht nur im Offenen Ganztag zu arbeiten. „Durch die beiden Abschlüsse können die Absolventen in quasi jeden Bereich gehen, der Erziehung involviert“, erklärt Bildungsgangleitung Stefanie Merz. „Wir hoffen natürlich, viele der jetzigen Studierenden halten zu können“, so Georg Jöres. „Das sind dann die qualifizierten Kräfte, von denen wir mehr brauchen. Dafür müssen wir dann aber auch bereit sein, selbst auszubilden.“
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