Mülheim. Der Polizeieinsatz im Mülheimer AZ wird am Landgericht Duisburg aufgerollt. Zum Auftakt sorgt ein bewaffneter Polizist für Empörung im Saal.

Der Polizeieinsatz am Autonomen Zentrum (AZ) in Mülheim, der mit einem Verletzten und nachhaltigem Ärger endete, liegt mehr als vier Jahre zurück. Doch zu den Akten gelegt ist der Fall noch nicht. Seit dieser Woche läuft am Landgericht Duisburg das Berufungsverfahren gegen O., einen 43-jährigen Mitarbeiter des AZ. Der Mülheimer wurde am 2. Januar 2023 vom Mülheimer Amtsgericht schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe verurteilt, wegen Widerstands und tätlicher Angriffe gegen Vollstreckungsbeamte. Er legte Berufung ein, die Staatsanwaltschaft ebenso: Sie will das Strafmaß - 70 Tagessätze zu je 25 Euro - überprüft sehen.

Die Geschehnisse am frühen Morgen des 8. Juni 2019 nennt der Angeklagte vor der 12. Strafkammer „ein einschneidendes Erlebnis“, an das er sich genau erinnere. Wesentlich genauer als die Polizeibeamten, die im Laufe des langen ersten Verhandlungstages vom Vorsitzenden Richter Ulrich Metzler als Zeugen vernommen werden. Der Fall wird komplett neu aufgerollt, die Geschichte von etlichen Beteiligten erneut erzählt, mit Unterschieden in wichtigen Punkten, die über Schuld oder Unschuld entscheiden.

Mülheimer AZ-Mitarbeiter nun als Angeklagter vor dem Landgericht

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Das Landgericht muss ergründen, ob das harte Vorgehen der Polizei gegen O. rechtmäßig war. Ob er damals, am Ende einer überlangen Kneipennacht, als Erster aggressiv wurde, einen Polizeibeamten geschubst hat, später im Streifenwagen zum Kopfstoß ansetzte, was das Amtsgericht für erwiesen hielt. Ob die Beamten ihn unter Zwang kontrollieren durften. Eine spätere - gewaltsame - Blutentnahme im Mülheimer St. Marien-Hospital ergab einen Blutalkoholwert von 2,16 Promille.

O. dokumentierte vor dem Landgericht, durch Fotos und ärztliche Atteste, erneut die Folgen der gewaltsamen Festnahme: eine Platzwunde über dem Auge, diverse Prellungen und Hautabschürfungen, auch im Gesicht. Besonders schwerwiegend: ein Taubheitsgefühl in den Händen durch extrem enge Handschellen, das er noch drei Monate nach dem Einsatz gespürt habe.

Zeugen werden schon zum vierten Mal vernommen

Einige Personen sagten nun zum vierten Mal vor Gericht aus. So der AZ-Gast, der seinerzeit die Polizei alarmiert hatte, nachdem er frühmorgens aus der Kneipe geworfen worden war - angeblich unter Einsatz von Pfefferspray und eines Schlages. Der Enddreißiger schildert, wie O. am Tor auf dem Boden lag, drei Polizisten hätten auf seinem Körper gesessen, einer mit der Faust auf seinen Kopf geschlagen.

Erneut befragt wurde auch L., Studentin und frühere AZ-Mitarbeiterin, die damals ebenfalls die Polizei am Tor empfangen und sich gegen eine Kontrolle gewehrt hatte. Das Landgericht hatte sie dafür im August 2021 rechtskräftig verurteilt - es gab eine Geldstrafe für einen „tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte“. Die junge Frau schilderte, O. sei unvermittelt auf den Asphalt geworfen und verletzt worden. „Wie Rambos“ hätten sich die Beamten verhalten. Ob O. auch von Polizisten geschlagen worden sei, konnte sie nicht sagen.

Früherer AZ-Mitarbeiter: O. wurde in Handschellen weggeschleift

Ähnlich äußerte sich J., Sozialpädagoge, damals AZ-Mitarbeiter - die dritte Person, die am 8. Juni 2019 hinaus zum Tor gegangen war. Auch für den 35-Jährigen war es der vierte Termin als Zeuge. O. sei plötzlich umgerissen, von drei Beamten am Boden fixiert, später in Handschellen vom Gelände „geschleift“ worden. Einen Schlag von hinzukommenden Beamten habe er nicht beobachtet.

Für Daniel Werner, Verteidiger des AZ-Mitarbeiters, ergibt sich aus allen bisherigen Schilderungen indessen: „Eine gefesselte Person im Gewahrsam der Polizei wird geschlagen. Das ist Polizeigewalt, und die ist nicht aufgeklärt worden.“ Der aus Leipzig angereiste Anwalt erinnerte an Strafanzeigen gegen drei beteiligte Polizeibeamte, die vor längerem gestellt wurden. Bislang ohne Konsequenzen. Zwei Mal habe er bereits Verzögerungsrüge erhoben, ebenfalls erfolglos. „Es macht mich fassungslos, dass die Staatsanwaltschaft hier nicht ermittelt“, erklärte Werner.

Der Richter belehrte später die erschienenen Polizisten entsprechend. Sie seien hier Belastungszeugen, im anderen Strafverfahren jedoch Beschuldigte. Sie könnten die Aussage verweigern, was jedoch keiner der Beamten tat.

Polizist erscheint in Freizeitkleidung mit Handschellen und Dienstwaffe

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Für Empörung im Gerichtssaal und eine längere Verzögerung sorgte der Auftritt eines 25-jährigen Polizisten, der als Zeuge erschien. Er trug Jeans, T-Shirt, dazu Dienstwaffe und Handschellen am Gürtel, obwohl er zu diesem Zeitpunkt, wie er angab, nicht im Dienst war. Der Verteidiger reagierte aufgebracht, war aber detailliert vorbereitet. Er beantragte, dem Polizisten das Tragen der Waffe im Gerichtssaal zu untersagen. Seinem Mandanten sei dies nicht zuzumuten, die Unabhängigkeit der Kammer sei in Gefahr, und auch er selber fühle sich „unwohl“ in Gegenwart eines bewaffneten Polizisten.

Der Vorsitzende Richter nannte es demgegenüber „normal“, dass Polizeibeamte in der Öffentlichkeit bewaffnet sind, seine Unabhängigkeit sehe er nicht gefährdet, er fühle sich nicht bedroht. „Ich aber!“, rief eine Zuschauerin - eine Gruppe aus dem AZ-Umfeld verfolgte aufmerksam die gesamte Verhandlung. Die Strafkammer zog sich zur Beratung zurück, lehnte den Antrag dann ab. Zurück im Zeugenstand, bot der Polizeibeamte seinerseits an, die Waffe einschließen zu lassen - wenngleich er nun im Dienst sei, „seit genau zwei Minuten“. Er verschwand erneut, um die Pistole in Verwahrung zu geben.

Junge Beamte offenbaren vor dem Landgericht Erinnerungslücken

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Der 25-Jährige war beim umstrittenen Einsatz am AZ noch in der Ausbildung und als Kriminalanwärter beteiligt. Er hatte damals AZ-Mitarbeiterin L. festgenommen, nachdem er von ihr geschubst worden sei, sie daraufhin zu Boden geworfen hatte. Ob auch O. zu Boden gegangen sei - was nach anderen Aussagen dicht in seiner Nähe geschehen sein muss - wisse er nicht mehr.

Auch ein 26-jähriger Kollege von der Mülheimer Wache offenbarte Erinnerungslücken. Ob die AZ-Leute über Konsequenzen belehrt worden seien, als sie die Angabe ihrer Personalien verweigerten? Ob O. gegenüber der Polizei handgreiflich wurde? Konnte er nicht sagen. Auf Widersprüche zu früheren Aussagen wiesen die Vertreterin der Staatsanwaltschaft und - hart nachhakend - der Strafverteidiger den jungen Polizisten hin. Das Verfahren wird mit Vernehmungen weiterer Zeuginnen und Zeugen am 27. Juli fortgesetzt. Ob dann bereits das Urteil gesprochen wird, ist noch offen.

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