Mülheim. Durch höhere Löhne und Energiekosten sehen Awo und Caritas ihre Angebote in Gefahr. Ein Hilferuf bleibt unbeantwortet, viele Fragen sind offen.
In einem Brandbrief wandte sich die Freie Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalens jüngst an Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). Die eindringliche Warnung: Angesichts steigender Kosten seien ganze Einrichtungen gefährdet und viele Angebote kurz vor der Einstellung. Die damit verbundene Forderung: mehr Geld. „Den Einrichtungen und Diensten steht das Wasser bis zum Hals, die Lage ist mehr als kritisch“, sagte Christian Woltering, Vorsitzender der Freien Wohlfahrtspflege NRW: Auch die Mülheimer Wohlfahrtsverbände schlagen Alarm.
„Die Kassen sind überall leer, es besteht aber dringender Handlungsbedarf“, sagt Manuela Rosenbaum, Geschäftsführerin des Mülheimer Awo-Kreisverbands und Sprecherin der hiesigen Arbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände. Rund 24.000 Kinder, Jugendliche, Eltern sowie Menschen mit Behinderungen und in prekären Lebenslagen werden ihren Angaben zufolge jährlich von den sozialen Diensten unterstützt. Angebote wie Kita, OGS, Schulden- und Suchtberatung sowie Wohnungslosenhilfe sieht Rosenbaum akut in Gefahr. „Falls das Land nicht eingreift, erreichen wir Dimensionen, die existenzgefährdend sind.“
Mülheimer Träger ächzen unter gestiegenen Personalkosten
Knackpunkt sind zum einen die durch den neuen Tarifabschluss im öffentlichen Dienst gestiegenen Löhne, zum anderen aber auch die Energiekosten – „hier zahlen wir mittlerweile das Doppelte“, gibt Rosenbaum ein Beispiel für die Awo, die in Mülheim an mehreren Standorten vertreten ist, viele davon in Bauten aus den 70er- und 80er-Jahren. Durch den NRW-Stärkungspakt, in dem der Kommune zumindest in der Theorie 1,8 Millionen Euro zur Verfügung stehen (wir berichteten), kann die Awo einen Teil dieser Mehrkosten abfangen. „Wir haben Bedarfe für die Mehrkosten in Sachen Energie gemeldet, uns stehen 50.000 Euro in Aussicht“, so Michaela Rosenbaum.
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Welche Kosten aber nicht vom Stärkungspakt gedeckt sind, sind die der gestiegenen Personalkosten. Ende April einigten sich Gewerkschaften und Arbeitgeber auf eine deutliche Lohnerhöhung von 5,5 Prozent. Zwar zahlen soziale Träger in der Regel kein Tarifgehalt, aber tarifnahe Löhne. In Zahlen gesprochen kommen so auf die Awo allein in diesem Jahr Personal-Mehrkosten in Höhe von 300.000 Euro zu. „Das ist ein Sprung, den wir aus eigener Kraft nicht bewältigen können“, prognostiziert Rosenbaum. Noch deutlicher ist der Anstieg bei der Caritas: Hier liegen die personellen Mehrausgaben laut Georg Jöres vom Fachdienst Jugend und Schule bei 900.000 Euro.
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„Entweder es findet sich eine Lösung oder wir müssen als Träger aus bestimmten Arbeitsbereichen aussteigen“, sagt Jöres. Im Falle der Caritas beträfe das vor allem schulische Angebote wie den Offenen Ganztag, aber auch Jugend- und Seniorenarbeit. Und auch die Awo sagt ganz klar: „Alles, was nicht refinanzierbar ist, wird beendet.“ Im Laufe des kommenden Jahres entscheidet sich laut Michaela Rosenbaum, ob Drogenhilfe, Schuldenberatung, das alte Wachhaus eine Zukunft haben – „unter anderem“.
Eine Zukunftsvision, die wohl kaum im Interesse der Stadt liegt. „Im Zweifel wäre es die Kommune, die beispielsweise den Bereich Kita übernehmen müsste, wenn Träger dazu nicht mehr in der Lage sind“, so Rosenbaum. Für den August ist ein Gespräch anberaumt, Sozialdezernentin Daniela Grobe, Repräsentanten der Träger und Kämmerer Frank Mendack wollen sich zusammensetzen. Dieser erklärt im Gespräch mit der Redaktion, dass „die Betroffenheit der Träger komplett nachvollziehbar ist“, räumt gleichermaßen ein, dass das Thema „kein einfaches“ sei.
Mülheimer Verwaltung muss bereits Mehrkosten in Millionenhöhe tragen
Auch die Stadt sieht durch den Tarifabschluss hohe Mehrausgaben auf sich zukommen. „Wir zahlen allein in diesem Jahr 14 Millionen Euro mehr Personalkosten, dazu dann noch 20 Millionen Euro Zinsen“, sagt Frank Mendack. „Das Problem der Wohlfahrtsverbände haben wir analog auch.“ Deshalb sei es aus seiner Sicht nur folgerichtig, dass sich die Träger an das Land gewandt haben. Nichtsdestotrotz sei man einem Austausch der Positionen gegenüber offen, „wir stehen hier noch ganz am Anfang.“
Das sieht auch Michaela Rosenbaum von der Awo so, es steht ein langer Weg zur Bewältigung eines großen Problems bevor. Wichtig sei nun, dass sowohl in der Politik als auch in Bevölkerung die Tragweite der immensen Finanzierungslücken deutlich wird – eine Antwort vom Land auf den Offenen Brief gab es bislang übrigens noch nicht. „Es muss aber etwas passieren, sonst wird nach und nach das Träger-Sterben beginnen.“