Mülheim. Hunderte Geflüchtete ziehen in Mülheim ganz nah an Einfamilienhäuser. Die Sorgen sind groß, Kinder liegen wach, die Nachbarschaft ist gespalten.
Am Freitagmittag kommt wieder ein Bus, an seiner Seite steht „Killer“. Aber es sind Frauen, Männer, Kinder darin, sie sprechen wenig, ein Baby weint. Sie haben nicht viel Gepäck, kleine Koffer, große Einkaufstaschen; es dauert keine fünf Minuten, da sind sie alle verschwunden in dem Haus, das einmal ein Büroklotz war. Sie dürften jetzt 300 Menschen sein, eingezogen binnen einer Woche in die neue Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE) des Landes in Mülheim-Raadt, einem Dorf am Rande der Stadt. 650 Geflüchtete sollen es noch werden.
Das Wort „Flüchtlingsheim“ gefällt den Nachbarn nicht: „Das hat mit ,Heim’ nichts zu tun, das ist eine Massenunterkunft“, sagt eine Frau. „650 Menschen sind viel, viel zu viele.“ Und sie sind zu nah, das sagt sogar die SPD: „Alles andere als optimal“ findet Nadia Khalaf, örtliche Abgeordnete im Ruhrparlament und Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt ihrer Partei, den Standort an der Parsevalstraße. Auch das Wort „desaströs“ fällt: An den mehrstöckigen ehemaligen Bürobau schmiegt sich ein Neubaugebiet mit 44 Einfamilien- und Doppelhäusern, an der engsten Stelle sind beide keine 30 Meter voneinander entfernt. So viele Menschen wie in der ZUE, sagt ein Familienvater, verteilten sich im übrigen, über Jahrzehnte gewachsenen Dorf, auf einen Kilometer. „Die prozentuale Verteilung“, sieht auch Khalaf, „stimmt nicht mehr.“
Neue Unterkunft: Plötzlich kennt man die Nachbarn nicht mehr
Hier leben neben Alteingesessenen vor allem junge Familien, erst vor kurzer Zeit bewusst hergezogen in eine Gegend, „in der sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen“. „Bullerbü“ sagen die Leute über ihr Quartier, in dem jeder jeden kennt. Kannte – denn jetzt sind da plötzlich viele Menschen, und die Ruhe, die sie suchten auf dem Land, sagt ein Anwohner, „ist dahin“. Schon nach einer Woche liefen „viele Sachen ungut“, erzählt ein anderer: Es ist laut geworden nebenan, „der Lebensrhythmus ist dort anders“, sagt eine zweifache Mutter, deren Kinder neuerdings nachts wach würden. „Hier sind enge Straßen und niedrige Häuser, man hört die lauten Gespräche wie neben dem eigenen Bett.“
Sie erzählen von Männern, die auf dem Spielplatz zusammensitzen und rauchen, von Telefongesprächen, bei denen sie jedes Wort verstehen könnten, wenn sie denn die Sprachen sprächen, vom Schall, der sich aus karg eingerichteten Zimmern weithin verbreite. Einer, der früh aufstehen muss für lange Schichten, hat „schon sämtliche Gefühlsausbrüche miterlebt“ – und das Abendgebet. „Man meint, man sitzt in einem Biergarten voller Touristen.“
Diskussion um Flüchtlingsunterkunft spaltet die Nachbarschaft
Dabei könnten die neuen Nachbarn ja nichts dafür, sie hätten nichts zu tun als spazieren zu gehen und sich zu unterhalten. Es sei auch „selbstverständlich“, sagt nicht nur Einrichtungsleiter Andreas Stomps von der Bezirksregierung Düsseldorf, „dass die Bewohner die Einrichtung verlassen, um sich zu bewegen und den Ausgleich zu suchen, den jeder Mensch braucht.“ Allerdings suchen sie dafür lange, Raadt hat keine Infrastruktur, und der Nahverkehr ist „Lotterie“, sagt Nadia Khalaf: kein Bäcker, kein Supermarkt, am ersten Tag fragten die Neuankömmlinge im Café gegenüber nach Wasser. Aber auch das Café hat seit heute zu. „Hier ist nichts“, sagt ein Mann aus einem Haus gegenüber, es ist keine Klage: „Das wollten wir so.“
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Aber jetzt ist da das ZUE, die Leute möchten das gar nicht werten, aber es ist ein Unterschied. Öffentlich mag niemand etwas dazu sagen, keiner möchte „in eine Schublade gesteckt“ werden, einer verwahrte sich neulich energisch „gegen das Nazi-Wort“. Schon jetzt, klagen Anwohner, habe die Diskussion „die Nachbarschaft gespalten“. Dabei gehe es, sagt die junge Mutter, bei den neuen Nachbarn „nicht um das Wer, sondern um die reine Zahl“. Und um das ständige Kommen und Gehen immer neuer Bewohner. Eine kleinere Einrichtung indes, heißt es in Raadt, „hätte der Stadtteil gut vertragen“.
„Man darf die Ängste und Bedürfnisse der Menschen hier nicht vergessen“
Sie haben gekämpft um mehr Information, sie haben ihre Hilfe angeboten, sie haben sich alles angesehen – nun wünschen sie sich, dass jemand Einfluss nehmen möge. Es gibt eine Telefonnummer, die sie anrufen können rund um die Uhr; sie haben es schon mehrfach getan. Nur können Betreuer und Sicherheitsdienst nicht viel ausrichten, wenn die Geflüchteten sich draußen aufhalten. Und sie sind erst 300, „es ist erst der Anfang“, sagt der Vater zweiter Töchter.
Gilberte Driesen findet, „man muss den Menschen sagen, dass ab 22 Uhr Ruhe gehalten wird“. Driesen betreut mit dem Mülheimer Centrum für bürgerschaftliches Engagement (CBE) städtische Flüchtlingseinrichtungen und weiß, dass viele Geflüchtete „gewohnt sind, anders zu leben“. Aber gerade deshalb sei „Regeln lernen“ wichtig: „In Deutschland gibt es Regeln! Man darf die Ängste und Bedürfnisse der Menschen hier nicht vergessen.“
An anderen Stellen der Stadt, etwa in Speldorf, haben sie schon viel Erfahrung mit Geflüchteten in der Nachbarschaft. In der Gemeinschaftsunterkunft leben rund 100 Menschen in hölzernen Baracken, aber auch hier trennt ein Zaun die Lebenswelten: Man lebt nebeneinander, aber nicht wirklich zusammen. Almina, kennst du die Nachbarn? „Leider nicht“, sagt die 13-Jährige aus Mazedonien und schaut unsicher auf die andere Straßenseite, wo schöne alte Häuser frei stehen mit maximal drei Parteien. Ein paar Ehrenamtliche kennt das Mädchen, die seien nett.
Doa aus dem Irak lädt deutsche Freundinnen zum Übernachten ein
Warum sie aber keine Tische nach draußen stellen dürfen, das begreift Doa aus dem Irak nicht. Man habe ihnen gesagt, das störe und „es sieht nicht schön aus“, sagt die 14-Jährige. Aber wo sollen sie hin an warmen Sommertagen, drinnen ist es eng unter dem Flachdach. Trotzdem darf Doa deutsche Freundinnen einladen aus der Schule, in den Ferien kommen sie sogar zum Übernachten. Doa sagt, sie versteht, „wenn Leute sagen, wir möchten unsere Ruhe“.
Sie sagen das häufiger, wenn wieder mal die Feuerwehr in die Straße kommen muss: Das passiert oft in Speldorf, die Rauchmelder lösen schnell aus, wenn gekocht wird, meistens ist es Fehlalarm. Laut ist es trotzdem, Anwohner haben sich beklagt. Andere fragen, wie solche Einsätze zu vermeiden wären: Neulich, berichtet Michael aus einem der Nachbarhäuser, hätten sich „ein paar Leute gezankt“, es seien „gleich vier Einsatzwagen gekommen“ und am Ende alle friedlich weggegangen. Ob das nötig war? Michael hat Zweifel.
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Syrer in Speldorf: „Sehr gute Nachbarn, sehr hilfsbereit“
In einer Unterkunft in Dümpten hat Gilberte Driesen noch nie Beschwerden gehört, „und das finde ich auch schön“. Sie blickt besonders auf die kleinen Bewohner: „Das sind Kinder, die müssen auch raus!“ Was die meisten Nachbarn unterschreiben. Margarete Wieschollek aus einem Haus in Speldorf mag Kinder sehr, „die sollen sich austoben“. Schließlich: „Die Kirchenglocken gleich hinter dem Haus stören mich ja auch nicht.“ Und die Grundschule stand auch immer schon da. In ihre Nachbarwohnung sind vor Jahren Syrer eingezogen, „sehr gute Nachbarn, sehr hilfsbereit, eine ruhige Familie“, sagt die 68-Jährige. Sherin Jernaz gibt das Kompliment zurück, „die Deutschen sind freundlich“, sagt die dreifache Mutter. Der Kontakt allerdings sei nicht immer einfach gewesen, erst die Kinder haben es ihr leichtgemacht: Die 39-Jährige hat jetzt auch eine deutsche Freundin – wie ihre fünfjährige Tochter.
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James Galbraith kennt Familie Jernaz nicht, aber ihm würde das gefallen. Deutsche und Flüchtlinge Tür an Tür, „es muss so durcheinandergehen“, findet der gebürtige Schotte, der beim CBE mit Kindern ehrenamtlich malt – mit geflüchteten, aber auch deutschen, alle zusammen. „Keine neuen Ghettos, keine arabischen Siedlungen“ dürften entstehen, sonst funktioniert sie nicht, „eine vernünftige Integration“. Doa und ihre Geschwister, Mama und Papa aus dem Irak wohnen allerdings schon drei Jahre in ihrer Holzhütte, sie finden keine Wohnung. Oder keine, die bezahlbar wäre. Andersherum lernte Gilberte Driesen neulich eine Flüchtlings-Familie kennen, die wollte aus einer eigenen Wohnung zurück ins Heim, weil sie mit den neuen Nachbarn nicht zurecht kam. Oder die nicht mit ihnen. „Das“, sagt Driesen, „habe ich noch nie erlebt.“
Nicht nur Ukrainer brauchen Unterstützung
Manchmal machen die Menschen Unterschiede, beim CBE hat es hat Ehrenamtliche gegeben, die wollten nur mit Ukrainern arbeiten, aber es gab auch die anderen: die für die Ukrainer kamen und blieben, „weil sie gesehen haben, dass auch die anderen Flüchtlinge Unterstützung brauchen“, sagt Gilberte Driesen. Viele Helfer kämen auch selbst mit Fluchterfahrung, „sie geben viel: Sie sind Akteure dieser Gesellschaft, sie werden gebraucht.“ Wie Fatima Ibrahim, die 20-Jährige betreut gerade Ferienkinder aus mehreren Ländern. Sie kam vor vier Jahren aus Syrien nach Mülheim. „Ich hätte mir gewünscht, dass jemand bei mir ist und mir Deutsch beibringt.“
In Raadt will die Bezirksregierung genau das bieten. Die Malteser haben die Betreuung der Menschen übernommen, Leiter Stomps freut sich über „die hohe Bereitschaft für Hilfsangebote, die aus der Umgebung kommt“. Das Naturfreundehaus, der Sportverein, „ganz viele ehrenamtlich Engagierte“ stünden bereit, den Bewohnern Orientierung zu geben und den Kindern „ein schulnahes Bildungsangebot“ zu machen – nach den Ferien. Allerdings werden die neuen Nachbarn hier nicht lange bleiben: Sie warten in der ZUE auf ihre Verteilung in andere Städte. Die Einrichtung soll zunächst für zwei Jahre bestehen, die Anwohner wollen darauf pochen. „Wir fiebern“, sagt einer, „dem Ende jetzt schon entgegen.“
Dabei steht die ZUE gerade noch ganz am Anfang. Für die Landeseinrichtung, ist die städtische Dezernentin Daniela Grobe zwar nicht zuständig, trotzdem hat sie einen Wunsch: „Dass in unserer Stadt ein gutes Miteinander von Mülheimerinnen und Mülheimer und Geflüchteten gelingt – nicht nur an der Parsevalstraße, sondern überall.“
>>INFO: GEFLÜCHTETE MENSCHEN IN MÜLHEIM
Wie viele andere Städte hat auch Mülheim mehr Geflüchtete aufgenommen, als es laut Flüchtlingsaufnahmegesetz müsste. Derzeit wird die Quote mit 332 Menschen übererfüllt, sie liegt bei 114,97 Prozent. Insgesamt bringt die Stadt, Stand letzte Juniwoche, 1484 Personen unter, 828 dezentral in von der Stadt angemieteten Wohnungen und 656 in Gemeinschaftsunterkünften. Das ist ein Rückgang gegenüber den Zahlen vom Jahresbeginn, weil seither eine große Sporthalle mit 260 Plätzen aufgegeben wurde. Die Zentrale Unterbringungseinrichtung des Landes (ZUE) wird dabei nicht mitgezählt. Dort sollen in den kommenden Wochen bis zu 650 Geflüchtete einziehen.
Die meisten Flüchtlinge kommen aus der Ukraine (632), es folgen die Herkunftsländer Syrien (153), Nigeria (93), Irak (87) und Afghanistan (55). Insgesamt kommen die Menschen aus 37 Staaten, zehn Personen gelten als staatenlos.
Ihre Unterbringung und Versorgung wird die Stadt Mülheim in diesem Jahr voraussichtlich rund 11,6 Millionen Euro kosten. In dieser Summe enthalten sind auch alle Menschen, die bereits in Wohnungen mit eigenen Mietverträgen leben, dazu alle Sach-, Transfer- und Personalkosten.
Mülheim setzt auf dezentrale Unterbringung in Wohnungen
Mülheim setzt per Ratsbeschluss von Dezember 2022 auf ein Drei-Säulen-Modell: Dadurch, dass die Mülheimer Wohnungsbau eG, eine Genossenschaft, weitere 150 Wohnungen aus ihrem Bestand zur Verfügung stellt, kann die Kommune die dezentrale Unterbringung weiter ausbauen. Auf dem Gelände der alten Stadtgärtnerei entsteht weiterer Wohnraum, das Konzept wird durch das Land gefördert. Zudem wird eine Ergänzungsfläche vorgehalten.
Insgesamt, sagt die zuständige Dezernentin Daniela Grobe, sei die Zahl der Geflüchteten damit händelbar. Für die nächsten zwei Jahre würden die in der Landeseinrichtung untergebrachten Geflüchteten auf das Zuweisungskontingent angerechnet. Von Land und Bund wünscht sich Grobe dennoch, „dass wir die Kosten der Ukraine-Krise nicht nur im Haushalt isolieren können, sondern auch eine echte auskömmliche finanzielle Unterstützung bekommen“. Insbesondere sei eine nachhaltige und verlässliche Finanzierung für die Unterbringungskapazitäten nötig, die Pauschalen müssten an die Kostenentwicklung angepasst werden.
Für den nunmehr sechsten „NRW-Check“ hat diese Zeitung gemeinsam mit 38 weiteren Tageszeitungen im Land Anfang Juni mehr als 1500 Wahlberechtigte über 18 Jahre befragt. „Migration und Flüchtlinge“ benannten 27 Prozent der Befragten als ihre derzeit größte Sorge. Wir berichten weiter.
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