Mülheim. Die Zahl der sexuell übertragbaren Infektionen nimmt zu. Werden die Menschen leichtsinniger? Mülheimer HIV-Forscher hat überraschenden Vorschlag.
Wer sich heutzutage mit HIV infiziert, hat mit entsprechender Therapie eine Lebenserwartung, die mit Nicht-Infizierten vergleichbar ist. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass sich wieder mehr Menschen mit anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen infizieren. Besonders bei Syphilis nimmt die Zahl der Erkrankten jährlich zu. Aber auch bei Tripper, Hepatitis B und Chlamydien steigen die Zahlen zum Teil deutlich. Werden die Menschen leichtsinniger? Einer, der es wissen muss, weil er seit mehr als 40 Jahren in der HIV-Forschung tätig ist, ist Prof. Norbert H. Brockmeyer. Der Mülheimer gilt als Koryphäe auf dem Gebiet, ist Vorsitzender der Deutschen STI-Gesellschaft und war Präsident der deutschen Aids-Gesellschaft.
„Interessanterweise ist die Zahl der Kondomnutzung nicht heruntergegangen. Aber es gibt eine Gruppe von Menschen, die sexuell sehr aktiv sind und nicht immer oder nicht richtig Kondome verwenden“, sagt Brockmeyer. Dating-Portale und Partner-Börsen hätten Sexualkontakte enorm erleichtert. Hinzu kommt, dass wir in unserer Gesellschaft laut Brockmeyer zu wenig über sexuelle Gesundheit sprechen. „Das muss etwas ganz Normales werden und wir müssen früher in den Schulen darüber reden.“
Aufklärungsunterricht vom eigenen Lehrer? Bloß nicht!
Vom Helfer zum Häftling- Warum ein Mülheimer weiter kämpftSexualkunde beim eigenen Lehrer - das hält der Mülheimer für nicht günstig. „Das sollten externe Experten machen. Ein Kind oder Jugendlicher kann nur schwerlich mit Lehrkräften über Sexualität reden, von denen er kurz darauf unterrichtet wird.“ Norbert H. Brockmeyer fordert zudem Lernkonzepte für sexuelle Gesundheit, ähnlich wie im Englisch- oder Deutschunterricht. „Man muss wie beim Autofahren lernen, wie man sich schützen und Risiken minimieren kann.“ Es habe sich immer gezeigt, dass eine gute sexuelle Aufklärung dazu führt, dass Jugendliche ein gesünderes Verhältnis zu Sexualität entwickeln, später sexuell aktiv werden und weniger Übergriffigkeit erleben. Ein weiteres Thema, bei dem sich Norbert H. Brockmeyer mehr Augenmerk wünscht: „Sexuelle Aufklärung darf nicht mit 20 aufhören. Wir verzeichnen auch viele sexuell übertragbare Infektionen bei den Ü-60-Jährigen.“
Norbert H. Brockmeyer hat sein Berufsleben vor allem der Versorgung von HIV-Patienten gewidmet. Beginnend in den 80er-Jahren, als die Ausgrenzung von HIV-Infizierten keine Grenzen kannte, eine regelrechte gesellschaftliche Hysterie herrschte, weil unklar war, wie genau sich das Virus überträgt. Heilungschancen gab es nicht. Damals starben Aids-Patienten innerhalb weniger Jahre qualvoll.
Vom Elektriker zum HIV-Forscher: Eine Karriere auf den zweiten Bildungsweg
Brockmeyer war seinerzeit als Spätberufener in die Medizin gekommen. Nach einer Lehre zum Elektriker habe er sich gedacht: „Das war eine gute Erfahrung, aber das wollte ich nicht mein ganzes Leben machen.“ Als er schließlich in der Inneren Medizin an einem Substrat mit immunmodulierender Wirkung forschte, fragte ihn ein Kollege: „Wollen Sie nicht HIV-Patienten behandeln?“ An die erste Begegnung erinnert sich Brockmeyer noch gut. „Die Menschen, die ich kennenlernen durfte, haben mich sofort ergriffen und nicht mehr losgelassen.“
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Arzt sein und nicht heilen können, weil zu wenig über das Virus bekannt ist. Wenn er heute an diese Zeit zurückdenkt, dann sagt er: „Das war eine ganz intensive Arbeit im Team, eine enorme psychische Belastung“. Durch die jahrelange enge Begleitung seiner Patienten habe er auch die Ausgrenzung hautnah mitbekommen. Als in der Politik eine namentliche Meldepflicht diskutiert wurde, habe ein Patient zu ihm gesagt: „Verbrennen Sie meine Akten, ich komme nicht mehr.“ Damals sei er mit Patienten auch mal zum Kegeln gegangen, um ihnen das Gefühl zurückzugeben, sich sicher in der Öffentlichkeit bewegen zu können.
Mülheimer ist mit 71 Jahren noch immer in der Forschung aktiv
2015 ist Norbert H. Brockmeyer für seine Verdienste mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden, damals von Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld. „Das war eine schöne Anerkennung.“ Inzwischen ist er 71 Jahre alt und forscht noch immer an der Universität in Bochum. Nur die Leitung des von ihm gegründeten Instituts für sexuelle Gesundheit und Medizin am St. Josef Hospital in Bochum (WIR), hat er vor zwei Jahren abgegeben. Sein Fazit nach mehr als 40 Jahren HIV-Forschung: „Man kann viel erreichen, wenn man sich einsetzt.“