Moers. In einem Moerser Internat hatte der Leiter laut Studie ein „Gewaltregime“ errichtet. Forschende arbeiten den Fall auf – und stellen Fragen.

„Aufarbeitung der gewaltförmigen Konstellation der 1950er Jahre im evangelischen Schülerheim Martinstift in Moers“ lautet die Überschrift der ersten regionalen wissenschaftlichen Untersuchung von Gewalt und sexualisierter Gewalt im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland.

Wie aus einer Mitteilung der Kirche vom Donnerstag hervorgeht, wird die Aufarbeitung im Rahmen eines Medientermins am 30. März in Moers öffentlich vorgestellt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität Wuppertal und der Fachhochschule Potsdam, die die Vorgänge im Martinstift unter Beteiligung Betroffener untersucht haben, werden ihre Ergebnisse präsentieren.

Zwei ehemalige Schüler, die maßgeblich an der Aufarbeitung beteiligt waren, werden die Untersuchung, die im April 2022 begonnen wurde, kommentieren und einordnen.

Die Lage in der Moerser Einrichtung beschreibt der Forschungsbericht laut Mitteilung in seiner Einleitung so: „Im evangelischen Schülerheim Martinstift in Moers wohnten in der ersten Hälfte der 1950er Jahre etwa 70 Jungen im Alter von zehn bis 20 Jahren. Sie besuchten das nahe gelegene Gymnasium Adolfinum und sollten im Martinstift fernab des Elternhauses ein ,von christlicher Hausordnung geregeltes Gemeinschaftsleben‘ führen.

Pädagogisches Personal stand dafür jedoch nur eingeschränkt zur Verfügung. Die meisten Mitarbeitenden waren zudem ohne entsprechende Qualifizierung. Manche setzten sich bei den Jugendlichen daher auch mit Gewalt durch. Leiter des Schülerheims war seit 1953 der studierte Pharmazeut und Gymnasiallehrer Johannes Keubler.

Das von ihm errichtete Gewaltregime aus brutalen körperlichen Strafen und sexuellem Missbrauch konnte er fast zwei Jahre lang aufrechterhalten. In einem Prozess am Landgericht Kleve wurde er im Mai 1956 wegen ,Misshandlungen und sittlicher Verfehlungen‘ an zahlreichen Schülern zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.“

Obwohl der Missbrauch aufgedeckt, der Täter fristlos entlassen, angezeigt und strafrechtlich verurteilt worden war, „hatte nach Ende des Gerichtsprozesses fast niemand mehr mit seinen Opfern – den Schülern des Martinstifts – die Auseinandersetzung gesucht und ihnen Unterstützungen angeboten. Sie wurden mit ihren Gewalterfahrungen alleine gelassen“, heißt es weiter in der Mitteilung.

Davon ausgehend haben die Forschenden nicht nur die Geschichte der Gewalt im Martinstift sowie die Geschichte ihres Verschweigens aufgearbeitet, sondern auch die pädagogischen Kontexte und den gegenwärtigen Umgang mit dem Fall. Ihr Bericht fragt danach, wie die heutigen Nachfolgeinstitutionen mit der institutionellen Verantwortung für die Geschehnisse umgehen.