Moers. Konrad Göke aus Moers hat bald einen Termin in Litauen. Dahinter verbirgt sich eine uralte Geschichte, die auf traurige Weise wieder aktuell ist.
Am 1. September hat Konrad Göke aus Moers einen Termin in Klaipeda. Er folgt einer Einladung der Regierung Litauens. Für Göke ist es nicht nur eine Reise in ein anderes Land, es ist auch eine Begegnung mit der eigenen Familiengeschichte. Eine Geschichte, in der Flucht und Vertreibung vorkommen, die also auf traurige Weise wieder aktuell ist.
In dieser Familiengeschichte spielt Paul Lindenau die Hauptrolle, er ist der Großvater von Konrad Göke. Göke, Jahrgang 1951, und Lindenau, gestorben 1955, sind sich kaum begegnet. Die Erinnerung ist schwach, aber sie ist da: „Mein Großvater war eine raumfüllende Gestalt.“ Die Begegnung hat im Harz stattgefunden, wo Konrad Göke aufwuchs.
Paul Lindenau, diese „raumfüllende Gestalt“, hat in seinem Leben Erstaunliches geleistet. Der 1882 geborene Sohn eines Sattlers studierte Schiffsbau in Danzig und eröffnete 1919 in Memel, dem heutigen Klaipeda die „Schiffswerft Memel – Lindenau & Cie., Eisen- und Holzschiffbau, Maschinenfabrik und Gießerei“. Kaufleute aus Memel gehörten zu den Kommanditisten, mithin also die Geldgeber.
Die Werft läuft gut. Lindenau hat den richtigen Riecher für den boomenden Schiffsverkehr in der Ostsee gehabt, und er ist nach Einschätzung vieler als Schiffsbauer seiner Zeit weit voraus, ein Eisbrecher wird sogar nach Archangelsk geliefert. Und ja, er beliefert auch die Nazis mit Minensuchbooten, also Kriegsgütern. Als die Niederlage der Nazis immer klarer wird, handelt er auf eigene Faust.
1944, Memel ist bereits von den sowjetischen Truppen umzingelt, bringt er seine Arbeiter und deren Familien und Freunde in den zwei riesigen Trockendocks unter und lässt die schwimmenden Behälter von Schleppern entlang der Küste ziehen. 2500 Menschen kann er so vor Tod, Gefangenschaft und Vergewaltigung schützen. Der Konvoi hat Kurs Richtung Westen und kommt schließlich in Kiel an. Übrig geblieben ist da nur noch ein Trockendock, das andere war in Gotenhafen bombardiert worden – leer, zum Glück. Gerettet!
Lindenau macht weiter. 1951 gründet er die „Lindenau Werft“. Mit an Bord sind viele seiner Arbeiter, die bereits in Memel Schiffe gebaut haben. Und wieder wird das Unternehmen ein Erfolg. Norwegische Reedereien gehören zu Lindenaus Kunden. Seit 2013 gehört die Werft – nach einer Insolvenz 2008 – zur German Naval Yards Holding.
Mit der Kieler Werft verbindet Konrad Göke persönliche Erinnerungen: „Ich war als Kind fast jeden Sommer dort. An den Geruch des Maschinenöls erinnere ich mich bis heute, es war die glücklichste Zeit meiner Kindheit.“
An diese Familiengeschichte erinnert sich Konrad Göke, als ihn im vergangenen Jahr eine Anfrage erreicht. Die Botschaft Litauens möchte wissen, ob es von Seiten der Familie Einwände gibt, die erste Schifffahrtsschule des Landes nach seinem Großvater Paul Lindenau zu nennen. Das Gelände, auf dem die Schule steht, ist das ehemalige Werftgelände.
Es gibt – natürlich – keine Einwände. Konrad Göke wird am 1. September eine Rede halten in Klaipeda. Sie könnte beginnen mit den Worten: „Ich stehe hier, genau dort, wo auch mein Großvater vor hundert Jahren gestanden hat, als er mit der Schiffswerft und Maschinenfabrik Paul Lindenau den Hochseeschiffsbau Litauens begründet hat.“
>>Info
Konrad Göke (71), geboren in Göttingen, lebt seit 1981 in Moers. Seit der Kommunalwahl 2020 gehört er dem Rat der Stadt an. Er ist Mitglied in der SPD-Fraktion und vertritt den Wahlbezirk Repelen-West/Genend.
Neben seiner politischen Arbeit ist Konrad Göke in Sachen Kultur unterwegs. Zum Beispiel war er von 1981 bis 1983 Regisseur und stellvertretender Intendant am Schlosstheater Moers und hat fürs Fernsehen gearbeitet. Aktuell ist er Künstlerischer Leiter der Festwoche „Moers klingt“ (28. August – 3. September) mit dem Jugendsinfonieorchester der Ukraine und vielen weiteren Künstlerinnen und Künstler. Mehr: www.moers-klingt.de