Moers. Helmut Berns war 15, als das erste Festival am Schloss stieg. Er blickt zurück auf Tapezierfolie, Schlammschlachten, Turnmatten und Bonanzaräder.

Herzlichen Glückwunsch, Moers Festival – 50 Jahre und kein bisschen leise. Der Moerser Helmut Berns ist Festival-Fan der ersten Stunde und war mit seinem Fotoapparat oft ganz nah dran. Im Interview erzählt er von den Anfängen des Jazzfestivals, immer wiederkehrenden Diskussionen und einzigartigen Musikerlebnissen.

Als in Moers 1972 das erste Jazzfestival über die Bühne im Schlosshof ging, waren Sie 14 Jahre alt. Können Sie sich daran erinnern?

Ich kann mich vor allem an verschiedene Szenerien erinnern. An Fans, an Musiker. Und an Situationen wie zum Beispiel das Erklimmen der Schlosshofmauer oder das Sitzen unter Tapezierfolie. Weil ja damals wie heute über die Pfingsttage alle Wetterlagen im Angebot waren. Und Regen war irgendwie immer dabei.

War das damals musikalisch eine neue Erfahrung?

Ich war 15 Jahre alt, da hat man natürlich andere Musik gehört. Wobei ich nicht unbedingt der Musikhörer war, sondern eher Musikmacher. Ich habe damals in einer Schülerband mit acht Personen gespielt, wir haben jedes Wochenende geprobt und vor allem gecovert – Pink Floyd, Sachen von den Beatles, den Rolling Stones. Die Festivalmusik war in der Tat völlig neu für mich.

Sie haben in jungen Jahren auch beim Festival geholfen ….

In den ersten Jahren noch nicht. Aber dann hatte ich einen Freund in der Schule, dessen Mutter war im Kulturamt. Der hatte einen Schäferhund und hat damals nachts sozusagen als One-Man-Security das Festivalgelände bewacht. Damit ich tagsüber auf dem Festival Fotos machen konnte, habe ich nachts als Aufsicht in den Turnhallen gearbeitet. Die Festivalbesucher konnten dort für eine Mark auf den Turnmatten übernachten. Morgens um 8 war Zapfenstreich und alle mussten raus, weil direkt danach die Musikprojekte in den Turnhallen stattfanden. Meine Mutter hat Kaffee gekocht und Kuchen gebacken, damit die Leute frühstücken konnten.

Moers Festival (damals Jazzfestival Moers) 1977: Auftritt der Gruppe
Moers Festival (damals Jazzfestival Moers) 1977: Auftritt der Gruppe "Blasverbot", die ausschließlich aus Moerser Musikern bestand. Am Klavier Christoph Eidens. Fotografiert von Hemut Berns

Wie haben Sie das Wachsen des Festivals erlebt?

Ich habe vor allem das unkontrollierte Wachsen im sogenannten Festivaldorf registriert. Das war allerdings nie so richtig meine Abteilung. Das hat sich über die Jahre zu einem alternativen, gleichzeitig stattfindenden Festival entwickelt. Eigentlich hatte beides nicht wirklich miteinander zu tun. Das gipfelte darin, dass im Park eigene Bühnen mit Anlagen aufgebaut wurden und dort eine ganz andere Art von Musik gespielt wurde. Ich war aber eher auf dem eigentlichen Festivalgelände und im Zelt unterwegs.

Was hat Ihnen das Festival als Moerser bedeutet? Waren Sie stolz darauf?

Ja. Moers ist eine sehr schöne Stadt. Ich bin hier aufgewachsen und später haben wir uns als Familie entschieden, hier unseren Lebensmittelpunkt zu behalten. Die Stadt hat eigentlich nur den Nachteil, dass sie keine eigene Universität hat. Eine Uni zieht immer andere Menschen, andere Ideen und Lebensentwürfe mit sich. Von daher war das Festival für uns immer ein Ausgleich für das, was man vermisste. Über Pfingsten brach das für vier Tage massiv über uns herein. Es hat mich immer fasziniert, dass so viele unterschiedliche Menschen sich immer ein bisschen beguckt haben, aber trotzdem die Neugierde so groß war, dass man am Sonntag mit der ganzen Familie durch den Park gegangen ist und sich die ,Bekloppten’ angeguckt hat.

Moers? Ah, Moers kenne ich, da ist doch immer das Festival. Haben Sie das erlebt, wenn Sie in der Welt unterwegs waren?

Ja, ist passiert. Aber für mich war vor allem das Schaffen dieser besonderen Situation in der Stadt wichtig. Von Anfang an gehörte ja auch die Auseinandersetzung, die Diskussion mit zum Festival. Der Druck und der

„Bekloppte gucken“ im Park.
„Bekloppte gucken“ im Park. © NRZ | Denise Ohms

Protest, der manchmal zu ganz kuriosen Situationen führte. Und sei es nur, wenn es mal wieder regnete und die Camper den Park als Matschlandschaft hinterließen. Da kam dann auch die Forderung, das Festival deshalb zu verbieten. Ich habe heute das Gefühl, dass die gleichen Leute, die das damals gefordert haben, jetzt am liebsten hätten, dass wieder im Park gezeltet werden darf. Hängt vielleicht damit zusammen, dass die Leute jetzt 30 Jahre später merken: Ach, das war eigentlich ganz schön damals ...

Wie haben Sie den Abschied von Burkhard Hennen erlebt, der war damals nicht wirklich friedlich ...

Burkhard hat das Festival lange geleitet. Ich finde, dass er für Moers etwas Besonderes geschaffen hat. Aber er ist in seinen vielen Jahren als Festivalleiter in einer Struktur verhaftet geblieben, die am Ende zu einem solchen großen Ereignis nicht mehr passte. Dadurch haben sich Situationen – unter anderem bei der Finanzierung – ergeben, die zu Neid und zu Meinungen geführt haben mit dem Tenor: ,Das ist unangemessen’. Eine saubere Finanzierung seiner Position, so wie später bei Reiner Michalke, wäre besser gewesen. Diese Chance hat er nie bekommen. Über die Jahre hatten sich dann die Fronten immer weiter verhärtet.

Dann übernahm Reiner Michalke ...

Mir hat sehr gut gefallen, dass er den Fokus wieder mehr auf die künstlerische Komponente auf der Bühne gelegt hat. Ganz besonders schätze ich, dass Michalke die Improviser in Residence in Moers installiert hat, weil dadurch für mich die Festivaltage das ganze Jahr über nachhallen. Wir haben mit vielen Improvisern zunächst gearbeitet und später auch privat Kontakt geknüpft und Freundschaften geschlossen.

Festival-Fans erzählen gerne von ganz besonderen Sternstunden. Haben Sie einen speziellen Festivalmoment?

Wenn man von Sternstunde sprechen will, ist es nicht die eine, spezielle Musik, die mich umgehauen hat. Sondern eher Situationen, die durch diese Musik entstehen können. Zum Beispiel, wenn im Programm zwei völlig unterschiedliche Darbietungen hintereinander folgen und die Zuschauer trotzdem beide Auftritte

Tim Isfort, künstlerischer Leiter Moers Festival, steht als kleiner Junge auf einem Bonanza-Rad (rechts), um über den Bretterzaun auf das Festivalgelände des Moers Festivals zu schauen. Das war in den 1970er Jahren.
Tim Isfort, künstlerischer Leiter Moers Festival, steht als kleiner Junge auf einem Bonanza-Rad (rechts), um über den Bretterzaun auf das Festivalgelände des Moers Festivals zu schauen. Das war in den 1970er Jahren. © Michael Hoefner

bejubeln. Das ist für mich eigentlich unvorstellbar. In der Regel ist man ja auf einen bestimmten Musikgeschmack festgelegt. Das spielt in Moers überhaupt keine Rolle. Ich empfinde es stets als sensationell, wie offen das Publikum hier ist. Das ist die Grundvoraussetzung für das künstlerische Konzept. Viele Leute, die zum Festival kommen, kennen die Namen der Bands nicht. Aber die besondere Situation, dass eben zwei Künstler auf der Bühne stehen und zum ersten Mal miteinander spielen und sich daraus etwas entwickelt – das ist heute Moers-speziell.

Vor vier Jahren gab es den Neustart mit Tim Isfort – was macht er anders als seine Vorgänger?

Eine ganz besondere Rolle spielt meiner Meinung nach die Wirkung, die das Festival auf Tim Isforts eigenen Werdegang hatte. Dafür sehe ich stellvertretend dieses Foto, wo Tim auf seinem Bonanzarad neugierig über den Zaun auf das Festivalgelände guckt. Das Festival hat ganz viel damit zu tun, dass Tim Isfort seinen Weg so gegangen ist. Dass er dann, 35 Jahre nachdem er über den Zaun geguckt hat, selbst künstlerischer Leiter ist, ist sicher eine besondere Situation. Zumal er aus Moers kommt und Moers wieder mehr ins Zentrum setzt, als es etwa Reiner Michalke getan hat. Das zeigt sich an den vielen Aktivitäten, die mehr in die Stadt verlagert wurden.

Lieben die Moerser ihr Festival … immer noch, oder wieder, oder vielleicht sogar ganz neu?

Ich glaube, dass sich über die Jahre erst Hass, dann Hassliebe und jetzt eine Art Liebe entwickelt hat. Vielleicht ist das normal über so eine lange Zeit. Man muss davon ausgehen, dass mittlerweile eine Generation da ist, die Moers gar nicht mehr ohne Festival kennt. Für die ist das Festival – und auch die Diskussion darüber – selbstverständlich.

Auch interessant

Zukunft, der Kampf um die Zukunft, ist das Motto des aktuellen Festivals. Wie sehen Sie die Zukunft des Moers Festivals?

Das ist eine schwierige Frage, wäre es aber auch vor 20 oder sogar 50 Jahren gewesen. Ich glaube, dass es eine Zukunft geben wird, weiß aber nicht, wie sich das Festival entwickeln wird. Ich persönlich würde mir wünschen, dass das Geschehen auf der Bühne mehr in den Vordergrund gerückt wird. Ich habe meine Probleme damit, wenn verschiedene Programme gleichzeitig stattfinden und ich nicht weiß, wofür ich mich entscheiden soll. Vielleicht haben aber jüngere Leute keine Probleme damit.

Apropos jung: Das Festival ist 50 Jahre alt geworden. Ist das Publikum mit dem Festival gealtert?

Ich sehe immer wieder viele Leute, die in meinem Alter sind. Aber es sind auch zunehmend jüngere Leute

Schon lange her: Moers Festival 2008 im Zirkuszelt im Freizeitpark.
Schon lange her: Moers Festival 2008 im Zirkuszelt im Freizeitpark. © NRZ | Denise Ohms

dabei Das ist aber im Theater und im Peschkenhaus ähnlich. Tim Isfort geht das über solche Projekte wie etwa die Composer Kids an, macht explizit Angebote für junge Leute. Nur so kann man junge Leute dafür begeistern. Unabhängig davon ist nach meiner Beobachtung der Durchschnitts-Zuschauer im Festivaldorf oder bei den gratis Konzerten im Park deutlich jünger, als das Publikum in der Halle. Von daher ist das, glaube ich, ein guter Weg. Man sollte allerdings auf Dauer die kostenlosen Konzerte nicht attraktiver machen, als das Programm auf der Bühne.

Wie gehen Sie das Festival in diesem Jahr an?

Man muss leider schon ein bisschen Improviser sein. Wenn ich kann, werde ich hingehen und Fotos machen, wie in all den Jahren zuvor. Konzerte in der Halle werden nun aber wohl ohne Publikum stattfinden.

Wie sehr würden Sie sich auf ein persönliches Live-Hör-und Seherlebnis freuen?

Ich habe ganz viele Platten und CDs vom Festival gekauft. Aber das Live-Hören dieser Musik hat für mich einen anderen Stellenwert. Da höre ich mir zuhause lieber Bach-Suiten an, als ein aufgezeichnetes Konzert vom Moers Festival. Die Live-Performance ist für mich nicht zu ersetzen. Deshalb würde ich mich sehr freuen, wenn es zumindest auf dem Rodelberg funktionieren würde. Mein Favorit in diesem Jahr ist aber definitiv die Große Kleine Allee-Band mit den aktuellen und vergangenen Moerser Improvisern. Die alle auf einen Haufen zu sehen - da freue ich mich sehr.