Moers. 75 Jahre Kriegsende im Altkreis Moers: Der Historiker Dr. Bernhard Schmidt erinnert an die Befreiung – und warnt vor einer neuen rechten Gefahr.

Am 3. März vor 75 Jahren war der Zweite Weltkrieg im Altkreis Moers vorüber. Mit den Folgen haben die Menschen in der Region aber bis heute zu tun, wie Dr. Bernhard Schmidt, Vorsitzender des Moerser Vereins Erinnern für die Zukunft im Interview mit Matthias Alfringhaus (NRZ) berichtet.

Nächste Woche gibt es ein „Gedenken zur Befreiung der Stadt“. Wovon wurde Moers am 3. März 1945 befreit?

Bernhard Schmidt: Erstmal von den Moerser Nazis – die gab es nämlich! Und Moers war damals auch, wie wir ja immer weiter ausgraben konnten, leider keine Insel der Seligen. Endlich waren die leidgeprüften Frauen, Kinder und älteren Menschen wenigstens von den Luftangriffen erlöst. NSDAP-Kreisleiter Dr. Bubenzer und Bürgermeister Linden wollten nicht befreit werden. Sie ließen ihre Durchhalteparolen zurück und setzen sich über den Rhein ab. Und noch nicht ganz befreit waren wohl auch viele von dem rassistischen Hochmut, dass selbst ernannte Herrenmenschen aus Deutschland ein Recht hätten, ein tausendjähriges Reich in Europa zu errichten. Tausende von zivilen Arbeitssklaven und Kriegsgefangenen konnten sich jetzt freuen – 930 ihrer Kollegen, für die es keinen Bunker-Schutz in den „Moerser Töpfen“ gab, waren hier umgekommen, endlich befreit auch eine in der Uerdinger Straße von der Familie versteckte Jüdin. Aufatmen auch bei ganz vielen Familien, die gelitten hatten oder im Widerstand waren. Ja – im sonst recht braunen Moers gab es auch sie, die befreit werden wollten.

Wie lief nach dem Kriegsende die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in Moers?

Als erstes wurde auch hier die als Siegerjustiz empfundene Entnazifizierung unterlaufen. Zwar waren nun viele der ersten Nachkriegsbürgermeister im Kreis Überlebende aus dem Widerstand – so auch Wilhelm Müller in Moers oder Johann Steegmann in Repelen-Baerl – doch blieben sie für eine erste Aufarbeitung des Unrechts eine Minderheit. Und die Kommunisten gerieten auch hier gleich mit dem Kalten Krieg in Ächtung. Mittelschicht und Landwirte hatten im braunen Moers von 1932 eben doch zu 60 – 80 Prozent für die Hitler-Koalition gestimmt…

Dr. Bernhard Schmidt, Vorsitzender des Moerser Vereins Erinnern für die Zukunft.
Dr. Bernhard Schmidt, Vorsitzender des Moerser Vereins Erinnern für die Zukunft. © FFS | Ulla Michels

Warum hat sich die Stadt ihrer Verantwortung erst nach und nach gestellt?

Die Moerserinnen und Moerser war insgesamt noch nicht so weit. Niemand protestierte, als 1975 die Synagoge der Moerser Altstadtsanierung zum Opfer fiel. Erst das bürgerschaftliche Engagement der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit konnte Bürgermeister Wilhelm Brunswick dazu bringen, sich an die Spitze der Einladung überlebender Moerser Juden zu stellen. Als 1994 etwa 70 Familien aus dem Moerser Widerstand unser „Tatort Moers“ von Landrat Röhrich und Bürgermeister Brunswick überreicht bekamen, klagten sie, dass man sie fünf Jahrzehnte lang übersehen hatte. Und kaum einer kannte Hermann Runge – einen Mann des Widerstands und des demokratischen Neubeginns..

Wie geschichtsbewusst erleben Sie Moerserinnen und Moerser heute?

Die Moerser waren immer sehr geschichtsbewusst, ja geschichtsverliebt – es gab einen richtigen Boom in der Grafschaft der Kaiserzeit. Aber ganz anders als zu Kaisers Zeiten haben nach 1945 die Nachfolger von Dr. Hermann Boschheidgen, von denen doch einige den Nazis gefolgt waren, den Blick auf gut ein halbes Jahrhundert Moerser Geschichte souverän ausgeblendet. Im Jahr 2000 wollten viele kein Widerstandsmahnmal vor dem Alten Landratsamt. Und als Hans-Gerd Rötters und Diana Finkele im Jahr 2010 dort das heutige Projekt starteten, lehnten noch viele eine selbstkritische Dauerausstellung zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts in Moers ab. Heute schließt – seit unseren beiden größeren Dokumentationen und mit den neuen Moerser Geschichtsstationen - das Geschichtsbewusstsein die NS-Zeit ein Stück weit mit ein.

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet sieht heute im Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Demokratie. Teilen Sie seine Meinung?

Ich teile diese Meinung – schon lange haben wir da gewarnt. Vor und nach der Jahrtausendwende kamen viele Neonazis, auch in Moers, als „fehlgeleitete junge Männer“ mit Freispruch und Siegeszeichen aus dem Gerichtssaal. Im Osten spielte die regierende CDU über Jahrzehnte ein Problem herunter, das doch in der DDR schon erkennbare Wurzeln hatte, und kürzte dann auch die Mittel für eine demokratische Jugendarbeit. Leider mit dabei – einschließlich NSU-Prozess – unsere Staatsorgane im ganzen Land, die auf dem rechten Auge auffallend blind waren. Für äußerst gefährlich halte ich die AfD und ihre Rhetorik. Sie trat lange Zeit als Wolf im Schafspelz auf, zeigt aber jetzt mit dem Faschisten Höcke ihr wahres Gesicht.

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Einige Historiker ziehen Vergleiche zwischen der Weimarer Republik und der aktuellen Situation. Sie auch?

Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, vergleichen wir. Fatal ist damals wie heute, wenn Demokraten die Probleme der Menschen nicht lösen und Arm und Reich weiter auseinanderdriften. Wenn staatstragende Parteien unglaubwürdig werden und ungeahnt ins Schleudern geraten. Anders als in Weimar haben wir heute eine wache Zivilgesellschaft, die nach 70 Jahren demokratischer Erfahrung weiß, was sie zu verlieren hat. Höcke wird sie nicht „austrocknen“, wenn wir jetzt alle auf die Straße gehen!