Moers. . Hannegret Gucek-Rehns Abschied von der Anne-Frank-Gesamtschule. Für Lehrerinnen und Lehrer wünscht sie sich bessere Arbeitsbedingungen.
In dieser Woche verabschiedet sich Schulleiterin Hannegret Gucek-Rehn nach 31 Jahren von der Anne-Frank-Gesamtschule (AFG) in Moers-Rheinkamp. Mit Matthias Alfringhaus (NRZ) spricht sie über den nicht immer einfachen Start der Gesamtschule, die Inklusion und die Belastungen für Lehrerinnen und Lehrer im Beruf.
Was hat sich in 31 Jahren AFG verändert, was ist geblieben?
Die AFG Rheinkamp wurde 1988 gegründet. Ich bin von Anfang an als Schulleitungsmitglied dabei. Wir haben mit einer Jahrgangsstufe angefangen, sind Jahr für Jahr angewachsen und haben uns in Rheinkamp etabliert. Geblieben ist der Charakter einer Stadtteilschule mit ihrer in den Jahren gewachsenen Verwurzelung in Rheinkamp, mit ihren Kooperationspartnern und Nachbarschaftsverhältnissen.
Inzwischen schlägt sich das auch in unserem regelmäßig erscheinenden Flyer „WIR in der Nachbarschaft im Ring“ nieder. Das WIR ist dabei nicht nur als Personalpronomen zu verstehen, sondern auch als Zusammenfassung unserer Richtschnur „Wissen - Individualität - Respekt“. Hiernach arbeiten und leben wir in unserer Schule. Geblieben ist ebenfalls die nachhaltig hohe Identifikation mit Anne Frank, die zu einer Erziehung unserer Schülerinnen und Schüler beiträgt, die Vielfalt achtet und jedem Menschen mit Respekt begegnet. Um es mit den Worten von Anne Frank zu sagen: „WIR sind alle verschieden und doch gleich.“ Verändert hat sich selbstverständlich auch eine Menge in der Schulentwicklung. Zu nennen sei hier exemplarisch die inzwischen abgeschlossene Arbeit an unserem Leitbild, das nun in ein Schulkonzept mündet, in dem WIR uns schulintern und -extern vorstellen mit unseren Werten, Überzeugungen und Handlungsfeldern.
Was waren die pädagogischen Ziele bei der Gründung der AFG, welche sind es heute?
Die pädagogischen Ziele sind schnell genannt. Und dabei möchte ich nicht weit ausholen und große Schulpolitik heraufbeschwören. Wir als Gründungsschulleitung von drei und Gründungskollegium von 15 Personen waren sehr zufrieden, im Moerser Norden eine Schule aufbauen zu dürfen, die für Kinder aller Begabungsrichtungen und Abschlussprognosen, schlicht für alle Kinder da war – und ist. So kamen sie aus den Grundschulen, so nahmen wir sie auch auf. Als Ganztagsschule konnten wir zudem neben der Lernstoffvermittlung auch von Beginn an fächerübergreifende Unterrichtsvorhaben, Projekte und Arbeitsgemeinschaften durchführen, an denen sich sogar auch ein erheblicher Teil der Eltern mit ihrem jeweiligen Know-how beteiligte. Durch das gemeinsame Zusammensein von 8 bis 16 Uhr inklusive Mittagessen, Pausenspielen und Nachmittagsangeboten gelang es uns schnell, Beziehungen zu unseren Schülerinnen und Schülern aufzubauen, die auch dem Lernen, besonders aber der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und dem sozial wirksamen Miteinander förderlich waren. So ist es bis heute im Grundsatz geblieben.
Wird die Gesamtschule heute mehr akzeptiert als noch vor 30 Jahren? Woran liegt das?
Sie geben die Antwort schon selber! Die Gesamtschule ist nicht mehr der Exot in der Schullandschaft. Die Erfolge, die Schulfreude und individuell mögliche Schulabschlüsse eines jeden jungen Menschen, der eine Gesamtschule besucht, sprechen für sich. Ehemalige Schülerinnen aus den ersten Jahren der Existenz unserer Schule sind inzwischen selber Eltern und schicken ihre Kinder auf unsere – sprich auf ihre alte – Schule. Dass wir uns zudem als erste Schule in Moers seit 1994 der Inklusion verschrieben haben, überzeugt ebenfalls. Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf lernen, spielen und verbringen den Schultag zusammen. Dies beinhaltet manch eine Herausforderung, aber ebenfalls Erfolge, die für sich sprechen.
Warum würden Sie heute jemandem die Gesamtschule empfehlen?
Die Gesamtschule ist eine Schule für alle Kinder. Ich bin davon überzeugt, dass Kinder nicht schon im Grundschulalter treffsicher verschiedenen Schulformen und damit möglichen Schulkarrieren und -abschlüssen zugeordnet werden können. Das hat mich auch die Erfahrung mit Schülerschicksalen gelehrt. Wer sein Kind auf einer Gesamtschule anmeldet, kann nichts falsch machen. Das Kind wird gemäß seinen Fähigkeiten und Interessen individuell gefördert, zu einem jeweils bestmöglichen Schulabschluss geführt und begleitet, wobei das Erreichen aller zu vergebenden Abschlüsse in der Sekundarstufe I und II unter einem Dach bei Wahrung gewachsener persönlicher Bindungen möglich ist.
Hat die Umstellung 2005 an den Gymnasien auf G8 den Gesamtschulen zusätzlichen Aufwind beschert?
Das kann ich in der Rückschau für unsere Schule nicht erkennen. Die Nachfrage nach Gesamtschulplätzen in unserer Region ist in den letzten Jahren etwa gleichbleibend hoch gewesen.
Wie schaut es jetzt aus, wo alle Moerser Gymnasien wieder auf G9 zurückgehen?
Dies hat dem Zustrom auf die Moerser Gesamtschulen keinen Abbruch getan, das Gegenteil ist sogar der Fall. Die Schulen längeren gemeinsamen Lernens leisten ja auch sehr gute Arbeit.
Unterstützen Sie, wie NRW mit der Inklusion an weiterführenden Schulen umgeht?
Wir sind seit 25 Jahren Inklusionsschule. Ich habe bereits geschildert, welche Vorteile für Kinder in der Entwicklung damit verbunden sind, dass die einer Gesamtschule eigene Heterogenität auch zieldifferent zu beschulende Schüler und Schülerinnen einschließt. Allerdings ist eine unserem Erziehungs- und Bildungsauftrag angemessene sächliche und personelle Ausstattung unerlässlich, dass dies auch gelingt. Besonders an der Versorgung mit Förderlehrkräften mangelt es.
Dies macht die Arbeit sehr schwierig, auch wenn die vorhandenen Kolleginnen und Kollegen sich nach Kräften und mit außerordentlichem Engagement einbringen. Für uns in der AFG ist Inklusion eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns mit Überzeugung stellen, die jedoch bisher – auch in Moers – auf zu wenigen Schultern ruht. Dass mehr Schulen sich der Inklusion öffnen, ist eine wesentliche Gelingensbedingung zum Wohle aller Kinder und Jugendlichen und sollte eine Selbstverständlichkeit sein.
Wird von Lehrerinnen und Lehrern heute manchmal zuviel verlangt?
Unseren wunderbaren Beruf ergreift ein Mensch hoffentlich in der Überzeugung der Verpflichtung und Achtung dessen, was von ihm verlangt wird. Es ist nicht nur Bildung, sondern auch Erziehung, Elternarbeit und vieles mehr. Vor allem Vorbild sein muss eine Lehrperson, Vorbild, an dem die Heranwachsenden und jungen Erwachsenen sich orientieren. Dies alles ist kein Zuviel, das gehört zu unserem Selbstverständnis dazu. Trotzdem wird Lehrerinnen und Lehrern durch manche Faktoren tatsächlich zuviel abverlangt. Arbeitsbedingungen in sanierungsbedürftigen Schulgebäuden, große Klassen – auch in der Inklusion – , Lehrerarbeitsplätze in riesigen Lehrerzimmern, in denen jeder nicht mehr als ein Eckchen eines Mehrpersonentisches zur Verfügung hat, wenig Rückzugs- und Erholungsmöglichkeiten im Schulalltag, um zwischendurch etwas Kraft zu schöpfen, um nur einige Punkte zu nennen, stellen schon einen erheblichen Angriff auf die Lehrergesundheit dar. Da könnten wir uns an manch einem europäischen Nachbarland noch ein Beispiel nehmen, wie es auch besser gehen kann.
Ihr persönliches Highlight in den Jahren als AFG-Leiterin?
Seit 41 Jahren bin ich Lehrerin. In Krefeld, Duisburg und schließlich hier in Rheinkamp. Mein tägliches Highlight: Ich hatte und habe immer ein sehr gutes erzieherisches und von gegenseitiger Achtung geprägtes Verhältnis zu Schülerinnen und Schülern. Mir gelingt es zumeist, den Heranwachsenden Wissen zu vermitteln, gleichzeitig gemeinsam Spaß beim Lernen zu haben und auch außerunterrichtlichen Aktivitäten Raum zu geben. Am schönsten ist es immer, wenn Schülerinnen und Schüler die Rituale und Abläufe, die wir gemeinsam für unseren Unterricht festgelegt und eingeübt haben, selbsttätig umsetzen und ihnen dies eine Selbstverständlichkeit ist. Und wenn sich dann am Ende eines Schuljahres im Schülerfeedbackbogen eine große Zufriedenheit und Anerkennung der gemeinsam beschrittenen Lernzeit wiederfindet, ist das für mich Highlight hoch 2! Allerdings erscheint mir eine kleine Episode doch noch erwähnenswert: Bei einem meiner regelmäßigen Besuche in einer Repelener Grundschule in meiner Zeit als Abteilungsleiterin für die Jahrgänge 5 – 7 wurde ich von einem Kind, das mich wohl von unserem Tag der offenen Tür in Erinnerung hatte, gefragt: „Sind Sie die Anne Frank von der Gesamtschule?“ Das hat mich zugleich berührt und gefreut.
Ihr Plan für die Zeit danach?
Ach wissen Sie, ich habe noch nie außerhalb der Ferien Urlaub gemacht. Es war immer Hochsaison am Urlaubsort: voll und teuer. Reisen in der Nebensaison steht also ganz oben. Da mein Mann gleichzeitig mit mir in seine passive Phase der Altersteilzeit geht, werden wir uns Zeit und Muße für Gesundheit und gemeinsame Unternehmungen nehmen, ob mit den Fahrrädern, im Garten, mit dem Wohnmobil oder beim Entdecken ganz neuer Beschäftigungen.
Natürlich werden wir uns auch mehr als bisher unserem fast dreijährigen Enkelsohn widmen können, der mit seinen Eltern in Helsinki lebt und den wir bisher nur an langen Wochenenden wie Karneval treffen konnten. Das alles gehen mein Mann und ich gemeinsam gelassen an. Ich gebe zu, dass ich erst lernen und einüben muss, nicht mehr nach einem sehr eng getakteten Terminkalender zu leben. Aber ich bin da ganz zuversichtlich. Ob ich allerdings länger als bis 5 Uhr morgens schlafen kann? Da bin ich jetzt schon gespannt.