Moers. . Die „Röhre“ an der Weygoldstraße feiert ein denkwürdiges Jubiläum. Einen der Gründer, Reiner Lindemann, zieht es an seinen „Tatort“ zurück.
Die Röhre – fast unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2018, und dies ist die Geschichte einer Kneipe, wie es in Moers keine zweite gibt. Vor 50 Jahren, genauer am 11. Oktober 1968, wurde sie von Reiner Lindemann und Burkhard Hennen eröffnet. Zu Beginn des Jubiläumsjahres zieht es Reiner Lindemann gewissermaßen zurück an seinen „Tatort“ an der Weygoldstraße.
Nun ist und war Reiner Lindemann in Moers kein Unbekannter. Wer ihn aus der Schulzeit kennt, mag ihn als Schülersprecher in Erinnerung haben. Er weiß noch, wie das mit der „Röhre“ begann: „Im Frühjahr ‘68 kam Burkhard Hennen in mein möbliertes Zimmer an der Kirchstraße 2 und fragte mich, ob wir nicht nach dem Abitur unsere Aktivitäten bündeln sollten.“
Das „Forum für Kultur und Politik“
Gesagt, getan: Man machte sich auf die Suche nach einer Immobilie, in der man eine Kneipe mit dem Untertitel „Forum für Kultur und Politik“ würde eröffnen können. Für den Keller der heutigen Barbara-Buchhandlung gab’s keine Genehmigung, aber das ehemalige Lager der Kaufhalle an der Weygoldstraße erschien – nicht zuletzt dank eines aufgeschlossenen Vermieters – als durchaus geeignet.
Ihren Namen „Die Röhre“, so erzählt Lindemann, verdankt die Kneipe zum einen dem schlauchartigen Zuschnitt, zum anderen sollte er Durchblick signalisieren – immerhin war es eine Polit-Kneipe. Auf die Holzsegmente, die den röhrenartigen Charakter unterstrichen, ist Reiner Lindemann besonders stolz, denn sie waren Marke Eigenbau. Röhren-Wirt Claudius Albustin, der sich mit dem Röhren-Gründer und der NRZ zum gemütlichen Plausch auf die Couch zurückgezogen hatte, vermochte dies zu bestätigen: „Da war ‘ne Tür drin verbaut!“
Die Fässer waren ein Geschenk der Brauerei
Es durfte damals eben nicht viel kosten – die als Tische dienenden Holzfässer waren wie die Gläser ein Geschenk der DAB-Brauerei, die Klappstühle stammten aus dem alten Kronen-Kino an der Neustraße. Und auch die Toiletten hatte das Gründer-Duo, das in einer Küche genannten Raum im heutigen Eingangsbereich nächtigte, höchstpersönlich eingebaut.
An den 11. Oktober 1968 kann sich Reiner Lindemann noch gut erinnern: „Der Laden war proppevoll.“ Und das blieb wohl auch so, denn der Bierumsatz der Röhre lag bei 41 Hektolitern im Monat, doppelt so viel wie der der anderen Moerser Kneipen. Deren Wirte, so berichtet Lindemann schmunzelnd, „gehörten zu unseren Feinden.“ Weshalb „Knubbel“ Steinschen als Konkurrenzwirt sich einmal geweigert habe, Lindemann und Hennen in seiner Kneipe Bier auszuschenken.
„Geh’ nicht in die Hascher-Kneipe!“
Ja, die „Röhre“ hatte nicht nur bei den Moerser Kneipiers einen schlechten Ruf. NRZ-Redakteurin Gabi Gies kann sich noch gut an die mahnenden Worte ihrer Mutter erinnern: „Geh’ nicht in die Hascher-Kneipe!“ Wobei das Töchterlein eher Gefahr gelaufen wäre, dort politisches Gedankengut aufzusaugen.
Denn die „Röhre“ war immerhin mit dem Anspruch gegründet worden, eine politische Kneipe zu sein. Und auch, wenn sich eben solche Aktivitäten in Grenzen hielten, so kann sich Reiner Lindemann gut daran erinnern, dass an der Weygoldstraße einst der Plan geboren wurde, die Moerser CDU zu unterwandern: „Wir wollten alle in die CDU eintreten und sie von unten aufrollen.“ Auf die Idee, dass die CDU die „Röhren“-Clique wohl eher nicht aufnehmen würde, also auf diese Idee sei man damals gar nicht gekommen.
Kneipe oder Studium?
Jedoch kam der Jura-Student Lindemann recht schnell auf den Gedanken, dass man nicht gleichzeitig eine Kneipe führen und studieren könne. Erst kürzlich, erzählt er versonnen, habe er eine seiner juristischen Hausarbeiten gefunden, die er – eine Schreibmaschine auf den Knien – in der „Röhre“ getippt hatte. Die sei allerdings nicht gewertet worden – „wegen der Übereinstimmung mit der Arbeit von Herrn Hennen“.
Jedenfalls trennten sich die Wege der Röhren-Gründer schon 1969. Während Burkhard Hennen das Moerser Jazz Festival ins Leben rief, blieb Reiner Lindemann seiner Berufswahl – bis auf kleine Episoden als Boutiquen-Besitzer und Taxifahrer – treu: Er legte die juristischen Staatsexamina ab, wurde Richter am Amtsgericht Moers und später auch Vorsitzender des Richterbundes in NRW.
Des Wirtes Berufswunsch: Bundeskanzler
Obwohl – eigentlich habe er ja Politiker werden wollen, wie schon aus seinen Immatrikulationsunterlagen zu entnehmen sei, in denen man 1968 noch den Berufswunsch angebenen musste. Bei Reiner Lindemann stand: Bundeskanzler.
Was „Röhren“-Wirt Albustin davon hält, dass der Mann, mit dem er auf der alten „Röhren“-Bühne sitzt, um ein Haar Bundeskanzler geworden wäre, hat er nicht verraten. Jedoch verstehen sich beide prächtig, denn sie fühlen sich durch die Kneipe verbunden. Die „Röhre“ hat seit 1968 an Heiligabend geöffnet; damals ein Skandal, heute eine lieb gewordenen Tradition.
Aber auch Reiner Lindemann weiß noch nicht alles, was es über die „Röhre“ zu wissen gibt: Sie beherbergte einst eine Hutfabrik, deren Firmenlogo noch heute in der Wand im Hinterhof zu sehen ist. Reiner Lindemann ist erstaunt: „Davon wusste ich bis heute nichts.“ Da wird er wohl noch öfter in die Röhre reinschauen müssen...