Kreis Wesel/Kreis Kleve. Die Arbeitsagentur im Kreis Wesel steht vor großen Herausforderungen. Vor allem der Fachkräftemangel wird zum Problem. Die Gründe:

Corona gefährdet ganze Branchen und verschärft die Digitalisierung, der russische Angriffskrieg stört die Lieferketten und sorgt für Kurzarbeit, Baby-Boomer-Jahrgänge bereiten sich auf ihre Rente vor und heizen den Kampf um Fachkräfte weiter an, gleichzeitig nimmt in der Industrie die Automatisierung immer mehr Fahrt auf und macht menschliche Arbeitskräfte überflüssig - der deutsche Arbeitsmarkt wird derzeit einem Stresstest unterzogen. „Wir befinden uns in einem tiefgreifenden Wandel“, sagt die Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Wesel und Kreis Kleve, Barbara Ossyra, im Pressegespräch. „Quo vadis Arbeitsmarkt? Wie entwickeln sich die Beschäftigungschancen in den Kreisen Wesel und Kleve?“ lautet der Titel.

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat die Agentur für Arbeit Julian Dupont von der Arbeitsmarktbeobachtung eingeladen, ein Dienst, den es nur in NRW gibt. Dupont beschäftigt sich mit der Arbeitslage im gesamten Rheinland. Und nach seinen Zahlen wird vor allem der Fachkräftemangel in beiden Kreisen zu einem noch massiveren Problem. Beinahe jeder fünfte Baby-Boomer wird hier in den kommenden zehn Jahren 65 Jahre alt, in den nächsten 20 Jahren wird die Quote auf mehr als 45 Prozent klettern. Fachkräftenachwuchs zu finden, wird derweil immer schwieriger, auch, weil die Neigung zu einem höheren Schulabschluss immer noch ungebrochen ist. „Die Menschen zu ersetzen, die sehr viel wissen, ist eine riesige Aufgabe“, sagt Dupont.

Gleichzeitig steigt die Automatisierungsquote. Im Kreis Kleve liegt der Anteil von Beschäftigten in sozialversicherungspflichtigen Berufen, die zu 70 Prozent von Computern oder Maschinen erledigt werden können, bei rund 36 Prozent. Im Kreis Wesel sind es 35,4 Prozent. Ein Prozess, der laut Dupont vor allem Hilfsarbeiter betrifft. Als Beispiel nennt Barbara Ossyra Logistik-Dienstleister oder den Online-Handel, wie etwa Amazon: Dort arbeite man bereits an Mechanismen, das Herausnehmen und Packen von Waren zu automatisieren. Noch sei es eine Kosten-Nutzen-Rechnung, die in den kommenden Jahren aber immer mehr aufgehen könne.

3276 Fachkräfte aus dem Gesundheitssektor im Kreis Wesel gehen in den kommenden zehn Jahren in Rente

Allerdings bieten laut Julian Dupont vor allem die Digitalisierung und der Klimaschutz große Chancen. Zum einen habe sich gezeigt, dass digitalisierte Unternehmen in den vergangenen Jahren „eher mehr Stellen auf- statt abgebaut“ hätten, zum anderen gebe es im Zuge des Ausbaus der erneuerbaren Energien einen hohen Personalbedarf. Allerdings zeige sich auch dort, so Dupont weiter, dass die Tendenz stark „Richtung Höherqualifizierung“ gehe.

Laut Arbeitsagentur geht die Schere zwischen Nachfrage und geeigneten Bewerbern in den kommenden Jahren immer weiter auseinander. „Wir haben einen Fachkräftemangel, aber immer weniger Menschen, die man sofort vermitteln kann“, sagt Ossyra. Derzeit sei der Arbeitsmarkt für Helferinnen und Helfer groß, so die Agentur-Chefin. „Aber was ist in zehn Jahren?“ Noch habe man gute Chancen, einen Job als Helfer zu bekommen. „Aber wenn ich jetzt 30 Jahre alt bin, kann ich nicht erwarten, dass ich bis 67 dauerhaft beschäftigt sein werde.“

Die Agentur für Arbeit sieht daher als eine Hauptaufgabe die Berufsberatung für Erwachsene, um Hilfskräfte zu Qualifizierungslehrgängen zu motivieren. Gerade in diesem Bereich könne man noch mehr machen, sagt Barbara Ossyra. „Das Geld dafür ist vorhanden.“ Auch Studienabbrecher habe man im Blick und arbeite mit Hochschulen zusammen, um diese Gruppe für eine duale Ausbildung zu gewinnen.

Grundsätzlich dürfe man keine Potenziale mehr aus dem Blick verlieren, sagt Julian Dupont. Viele Arbeitgeber könnten sich noch mehr für Schwerbehinderte und Langzeitarbeitslose einsetzen. „Außerdem brauchen wir eine vernünftige Entlohnung und geregelte Arbeitszeiten“, sagt Barbara Ossyra. Die neuen Tarifverträge in der Gastronomie seien in dieser Hinsicht eine große Chance.

>>>Aderlass an Fachkräften<<<

Im Kreis Wesel nimmt der Handel mit 25.358 Beschäftigten die Spitzenposition ein. Dort gehen laut Agentur für Arbeit in den kommenden zehn Jahren insgesamt 3519 Fachkräfte in Rente. Das Gesundheitheits- und Sozialwesen im Kreis Wesel verliert in der Dekade 3276 Fachkräfte.

Die Arbeitsmarktbeobachtung der Agentur für Arbeit in NRW hat zehn Branchen aufgelistet, die in den kommenden zehn Jahren am meisten vom Fachkräfterückgang betroffen sein werden. Darunter auch öffentliche Verwaltung, Baugewerbe, wissenschaftliche und technische freiberufliche Dienstleistungen.

Insgesamt geht die Arbeitsagentur von 16.731 Fachkräften im Kreis Wesel aus, die in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand gehen. Bis zum Jahr 2050 geht dem Kreis 16,4 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung als Arbeitskräfte verloren. Fachkräftemangel besteht schon jetzt unter anderem in Energie- und Elektrotechnik, In Hochbau, Trockenbau und Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik sowie im Gastgewerbe, in den Verkaufsberufen und der Gesundheitsbranche.

Und laut Julian Dupont ist spricht die Entwicklung in allen Branchen eine deutliche Sprache. „Es geht ganz klar Richtung Höherqualifizierung.“