Kreis Wesel. Kürzere Zündschnur, mehr Hilflosigkeit: Nicht immer ist es auch ein objektiver Notruf, wenn Kreisleitstelle oder Polizei angerufen werden.
Der Feuerwehrverband in NRW hat kürzlich von einer steigenden Belastung durch ein Plus an Rettungsdiensteinsätzen berichtet, teils sei der Anstieg auch einer Mentalität der Bürgerinnen und Bürger geschuldet, für jede „Bagatelle“ den Notruf zu wählen, vermutet ein Gewerkschafter. Wie stellt sich die Situation im Kreis Wesel dar? Eine Einschätzung dazu kann Arno Hoffacker geben, er ist Leiter der Kreisleitstelle – von hier aus wird täglich 24 Stunden lang in den Bereichen Brandschutz, Hilfeleistung. Katastrophenschutz, Rettungsdienst und Krankentransport koordiniert.
Auch Hoffacker hat aktuell wieder eine gestiegene Zahl der Einsätze im Rettungsdienst festgestellt: Waren es von Januar bis Juli im vergangenen Jahr noch 41.000 Einsätze, so waren es in gleichen Zeitraum dieses Jahres 7000 mehr. Wohl auch wegen Corona, die Zahl bewege sich im normalen Bereich, ordnet er ein – es sind wieder mehr Menschen unterwegs, das Risiko für Unfälle steigt. Bagatell-Anrufe, also Notrufe, die objektiv nicht unbedingt welche sind, kann Hoffacker nicht beziffern. Grundsätzlich betont er: Oberste Prämisse sei es immer, Menschenleben zu retten. Bei jedem Anruf werde fachlich abgefragt, es handele sich immer um eine Einzelfallentscheidung. Sollte sich der Zustand eines Patienten verschlechtern, werde immer dazu aufgefordert, erneut anzurufen.
Corona-Pandemie: Anrufe wegen einfacher Erkältung
Was Hoffacker aber deutlich festgestellt hat im Vergleich zu früher: „Man hat den Eindruck, dass die Leute hilfloser werden.“ Er nimmt wahr, dass die 112 eben auch in Fällen gewählt werde, in denen eigentlich ein Arzt zuständig sei, nicht zwangsläufig der Rettungsdienst. Und die Menschen haben eine kürzere Zündschnur, ist seine Wahrnehmung. Das sei auch an vermehrten Meldungen über Gewalt gegenüber Einsatzkräften auszumachen sowie an Beleidigungen am Telefon. Und: Es herrsche schneller Ärger, wenn jemand meine, der RTW habe zu lange gebraucht, es komme zu Strafanzeigen. Das sorge für zusätzlichen Aufwand. „Es gibt eine große Erwartungshaltung.“
In der ersten Pandemie-Zeit habe es etwa Anrufe wegen einfacher Erkältungen gegeben. Menschen ohne positiven Test hätten angerufen. Nicht allein die Frage, ob eine Infektion vorliege sei entscheidend, sondern ob die Person unter Atemnot leide. Hoffacker verweist auf die Bereitschaftsnummer des kassenärztlichen Notdienstes, dieser vermittele unter 116 117 an einen Hausarzt, denn dieser ist etwa bei einfacher Erkältung, leichten Bauchschmerzen oder leichten Verletzungen zuständig.
Kreispolizei: Missbräuchliche Notrufe können zu Strafanzeige führen
Auch die Kreispolizei führt keine Statistik zu Bagatellanrufen über die 110. Durchschnittlich nehme die Polizei pro Monat 5100 Einsätze wahr, die Zahl der damit verbundenen Notrufe sei aber wesentlich höher, so Polizeihauptkommissar Frank Berresheim, Leiter im Führungs- und Lagedienst. „Viele Menschen melden sich gerade in gefühlten ‘Ausnahmezuständen’ mehrfach.“ Ihm ist wichtig darauf hinzuweisen, dass nicht in jedem Fall ein Missbrauch von Notrufen vorliegt.
Eine mögliche Kennziffer kann aber an den Strafanzeigen ausgemacht werden, die im Zusammenhang mit missbräuchlichen Notrufen erstellt werden – das waren in diesem Jahr bislang 35 (Stand 31. Juli). Hinter solch einem Fall würden sich aber oft mehrere, teils bis zu 70 Anrufe verbergen, so Berresheim. Die Folgen sind unter Umständen etwa eine erhöhte Arbeitsbelastung, eine verschlechterte Reaktionszeit sowie gebundene Einsatzmittel an eine erfundene Örtlichkeit.
Polizeisprecherin Andrea Margraf nennt als Beispiel den Fall eines Düsseldorfers, der in Dinslaken von Polizei und Ordnungsamt kontrolliert worden sei. Die Folge: Ordnungswidrigkeitsverfahren. Offenbar aus Ärger habe er von Telefonzellen aus innerhalb kürzerer Zeit Abstände mehrmals den Notruf gewählt. In einem anderen Fall in Kamp-Lintfort sei der Hinweis eingegangen, dass eine unbekannte Person mit einem Messer gesichtet worden sei und Drogen verkaufe. Die Polizei fuhr hin, traf aber niemanden an. Wenig später kam erneut ein Anruf: Dieses Mal sollte die Person gar eine Pistole mit sich tragen. Als die Polizei den Anrufer erkannte, legte dieser einfach auf.
Nichtsdestotrotz betont Berresheim: „Grundsätzlich lebt die Kreispolizei von der Aufmerksamkeit und Bereitschaft, Mitteilungen zu machen.“ Bei Fragen, die über die Notrufnummer eingehen, werde an Nebenstellen verwiesen. Wichtig ist auch Arno Hoffacker von der Kreisleitstelle: „Niemand sollte Angst haben, anzurufen.“
Polizei und Kreisleitstelle: Unwetterlagen stellen besondere Situationen dar
Ein hohes Notrufaufkommen verzeichnen Kreisleitstelle und Polizei bei besonderen Lage. Die Kreispolizei nennt hier etwa den tragischen Flugzeugabsturz in Wesel. In solchen Situationen gehen dann Mehrfachmeldungen ein. Da kein Notruf verloren gehen dürfe, werde in einem solchen Fall an andere Leitstellen weitergeleitet, der Notfall dort bearbeitet, die Informationen dann weiter geschickt, heißt es von der Polizei.
Auch Unwetterlagen haben in den vergangenen Jahren zugenommen. Die Stürme seien heftiger geworden und richteten Schäden oft in kürzester Zeit an, so Arno Hoffacker. Das führe zu einer Überlastung des Notrufs. Die Kreisleitstelle muss sich in diesen Fällen auf die öffentliche Gefährdung konzentrieren. Es müsse immer gewährleistet sein, dass auch der Herzinfarkt etwa in Moers noch behandelt werden könne.
Seit vergangenem Jahr gibt es die barrierefreie Nora-Notruf-App auch im Kreis Wesel für Menschen mit Beeinträchtigung. Sie übermittelt im Notfall den Standort, die Infos zum Einsatz gehen schriftlich ein.