Am Niederrhein. Evangelischer Kirchenkreis Kleve arbeitet Ergebnisse der Forum-Studie auf. Welchen Missbrauchsfall es gab und wie Prävention abläuft.

Die Forum-Studie zur sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie hat erschütternde Ergebnisse hervorgebracht. Sie spricht von 1259 Beschuldigten, darunter 511 Pfarrpersonen, und mindestens 2225 Betroffenen deutschlandweit. Gleichwohl schränkte das von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragte unabhängige Forscherteam bei der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie vor knapp zwei Wochen ein, dass dies nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“ sei.

Auch die Verantwortlichen des Evangelischen Kirchenkreises Kleve und der Diakonie zeigten sich bei einem Pressegespräch im Haus der kreiskirchlichen Dienste in Goch bestürzt über die Erkenntnisse auf den mehr als 900 Seiten: „Hinter jedem Fall steht erlittenes Unrecht und Leid. Jeder Fall ist einer zu viel.“

Missbrauchsfall in 1970er Jahren

Bereits 2022 wurde bekannt, dass ein mittlerweile lange verstorbener Pfarrer in dem Kirchenkreis am linken Niederrhein Anfang der 1970er Jahre Missbrauch begangen hatte. Ein Betroffener hatte sich gemeldet und laut Superintendent Hans-Joachim Wefers anschließend auch Entschädigungszahlungen erhalten. Mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte des verstorbenen Beschuldigten veröffentlichte der Evangelische Kirchenkreis Kleve weder dessen Namen noch die Kirchengemeinde, in der es zu den Taten gekommen war. „Wir haben anschließend weitere Betroffene dazu aufgerufen, sich zu melden. Dies ist aber nicht geschehen“, stellte Pfarrer Wefers fest.

Das Haus der kreiskirchlichen Dienste an der Niersstraße in Goch.
Das Haus der kreiskirchlichen Dienste an der Niersstraße in Goch. © NRZ | Niklas Preuten

Die Diakonie im Kirchenkreis Kleve sichtete im Zuge der durch die Studie nun beginnenden Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt alle ihre Personalakten. „Darin gab es keinen Hinweis auf einen Fall – das heißt aber nicht, dass es auch keinen Fall gab“, sagte Geschäftsführer Joachim Wolff. Er sprach mit Blick auf ganz Deutschland von einem „gigantischen Dunkelfeld“ und warnte davor, das Ausmaß des Missbrauchs nur anhand des Aktenstudiums festmachen zu wollen. „Die Aussagekraft einer Personalakte wird überschätzt. Ich glaube kaum, dass man damit weiter kommt“, meinte der Pfarrer. Man müsse vielmehr klären, wie Verdachtsfälle in der eigenen Organisation dokumentiert werden sollten. „Die Meldestellen spielen dabei eine wichtige Rolle“, so Wolff.

Unklare Verantwortlichkeiten als Problem

Neben dem Versuch, Fallzahlen zu ermitteln, legte die Forum-Studie insbesondere offen, welche spezifisch evangelischen Strukturen sexuellen Missbrauch begünstigen. Dazu gehört unter anderem ein Phänomen, das die Forschenden „Verantwortungsdiffusion“ nennen. „In der katholischen Kirche ist immer klar, wer schuld ist: der Bischof oder der Papst. In der evangelischen Kirche weiß man dagegen nie so genau, wer verantwortlich ist“, beschreibt es Superintendent Wefers. Denn die Rolle des Präses sei nicht vergleichbar mit der eines römisch-katholischen Bischofs.

In der evangelischen Kirche weiß man dagegen nie so genau, wer verantwortlich ist
Hans-Joachim Wefers - Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Kleve

Problematisch ist zudem die Vermischung von Dienstlichem und Privatem, die das Pfarramt mit sich bringt. „Durch den gesellschaftlichen Wandel verändert sich dies, doch in der Vergangenheit fiel Missbrauch in einem Pfarrhaus nicht so schnell auf“, stellte Hans-Joachim Wefers fest. Ihn habe darüber hinaus erschreckt, dass der theologische Fokus auf Schuld und Vergebung laut der Studie ein „Einfallstor für Missbrauch“ darstellen könne. Betroffene sahen sich so unter Druck, nach dem erlebten Missbrauch ihren Peinigern zu vergeben.

Selbstbild in Frage gestellt

Diese und weitere Ergebnisse rütteln am Selbstbild der Protestanten. „Wir nehmen uns selbst als progressivere Kirche wahr. Viele glauben, dass wir die besseren Strukturen haben. Daraus entsteht dann der Reflex zu sagen: ,So etwas passiert bei uns nicht.‘ Doch das Gegenteil ist jetzt beweisen“, sagte Wefers offen. „So bitter es ist, den Spiegel vorgehalten zu bekommen – wir werden auf Schmerzpunkte aufmerksam gemacht, an denen wir arbeiten können.“

Zentrale Meldestellen

Seit dem Frühjahr 2021 gibt es in der Evangelischen Kirche im Rheinland eine Ansprechstelle für den Umgang mit Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung. Sie ist Teil der evangelischen Hauptstelle für Familien- und Lebensberatung, Graf-Recke-Straße 209a in 40237 Düsseldorf. Ansprechpartnerin für Betroffene und Intervention ist Claudia Paul, die telefonisch unter 0211 3610-312 und per E-Mail an claudia.paul@ekir.de zu erreichen ist.

Ansprechpartnerinnen in der Meldestelle für Verdachtsfälle bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe sind Helga Siemens-Weibring, 0211 6398-302, h.siemens-weibring@diakonie-rwl.de, und Birgit Pfeifer, 0211 6398-342, 0151 11344290, b.pfeifer@diakonie-rwl.de.

Im Evangelischen Kirchenkreis Kleve ist Yvonne Petri die Ansprechperson für Fragen sexualisierter Gewalt. Sie ist unter 02823 9444-35 und yvonne.petri@ekir.de erreichbar.

Die 2022 vorgestellten Gewaltschutzkonzepte des Evangelischen Kirchenkreises Kleve und der Diakonie sehen ein klares Vorgehen bei Verdachtsfällen vor. „Wir ermutigen Betroffene, am besten direkt die Meldestelle zu kontaktieren und den Fall bei der Staatsanwaltschaft zur Anzeige zu bringen“, sagte Diakonie-Geschäftsführer Joachim Wolff, der allerdings Verständnis dafür äußerte, dass es für Betroffene auch Gründe geben könne, nicht über ihre Situation zu sprechen. „Die Folgen sind für sie massivst.“

Präventionsschulungen seit Ende 2022

Der Kirchenkreis bietet seit November 2022 Präventionsschulungen an, die bislang mehr als 100 Menschen – darunter Pfarrpersonen, Presbyter, Kita-Mitarbeitende und Ehrenamtliche – in Anspruch genommen haben. „Jeder in der Gemeinde muss genau hinschauen“, forderte Öffentlichkeitsreferent Stefan Schmelting, der gemeinsam mit der Kranenburger Pfarrerin Sabine Jordan-Schöler die Schulungen leitet. „Diese Sensibilisierung ist sehr wichtig, damit klar wird, womit wir rechnen müssen und wie wir damit umgehen“, sagte Superintendent Hans-Joachim Wefers.