Kreis Kleve. Kleves Tiergartenleiter Martin Polotzek im NRZ-Gespräch über die Notwendigkeit, Tiere anders wahrzunehmen und mehr zu wertschätzen.
. Wir müssen uns ändern. Für den Soziologen Markus Schroer ist es offensichtlich, dass die heutige Lebensweise des Menschen nur eines zur Folge hat: die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen. In seinem Buch „Geosoziologie“ legt er dar, wie sehr der Mensch die Ressourcen der Erde für sich beansprucht und damit die Lebensgrundlage von Pflanzen und Tieren massiv bedroht, verschmutzt und zerstört. Das gesamte Selbstverständnis des Menschen, „seine bisherige Auffassung von Natur, Kultur und Gesellschaft und sein bislang gepflegter Umgang mit anderen Lebewesen“, all dies sei in Frage gestellt. Und das gelte insbesondere für den Umgang mit Tieren.
Tiere werden vom Menschen gehalten, sie werden „genutzt“, missbraucht, gequält, verehrt, liebkost – aber immer bestimmt der Mensch, was mit dem Tier geschieht. Dass Tiere und Pflanzen die Lebensgrundlage für uns bilden, wird selten gesehen.
Also, wie halten wir es mit dem Tier.? Die NRZ bat den Klever Tiergartenleiter Martin Polotzek zum Gespräch.
Muss sich etwas in unserem Verhältnis zu Tieren grundsätzlich ändern?
Martin Polotzek: In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Tierhaltung schon extrem viel verändert. Wir erlangen permanent neue Erkenntnisse über Tiere durch die Forschung in zoologischen Gärten oder in der Wildbahn. Durch diese Forschung haben wir heute einen ganz anderen Blick auf Tiere. Nehmen sie etwa unsere Braunbäranlage: Die wurde in den 60er Jahren hochgelobt. In den 90er Jahren hat man gemerkt, dass diese für Braunbären doch nicht so toll ist und hat rote Pandas reingesetzt. Heute, 30 Jahre später, wissen wir, dass diese Anlage auch für rote Pandas nicht geeignet ist. Rote Pandas sind Einzelgänger und daher werden die Anlagen heute auch so gebaut, dass man die Tiere trennen kann.
Tierhaltung im Zoo ist immer ein Wandel.
Haben wir „Normalmenschen“ überhaupt noch ein Verhältnis zu Tieren? Außer mit Haustieren, Hunden und Katzen, kommen wir kaum noch mit Tieren in Berührung, weil wir uns so weit von der Natur entfernt haben.
Wir haben in der Tat schon eine gewisse Natur- und Tierentfremdung der Gesellschaft, weil es weniger Kontakte gibt. Die meisten Berührungspunkte haben wir im Supermarkt, wenn wir tierische Produkte konsumieren. Viele Menschen sind sich auch nicht mehr im Klaren, wo das Produkt überhaupt herkommt und dadurch hat sich auch ein verzerrtes Bild auf die Tierhaltung entwickelt. Über 90 Prozent der gehaltenen Hühner sehen kein Tageslicht.
Ich glaube, dass dies auch eine wichtige Aufgabe von Zoos ist, hier ein Bewusstsein zu schaffen, wie Menschen mit Tieren interagieren und wie wir Tiere nutzen. Mir ist es ein Anliegen, dass Menschen Tiere schätzen lernen als fühlende, leidende, sympathische Wesen. Der Zoo wird zu einer Schnittstelle zwischen Natur, Tier und Mensch.
Können Ihre Besucher mit dem Verhalten von Tieren überhaupt noch etwas anfangen? Wenn ich mir so ein Kamel ansehe, dann habe ich aus Büchern dieses vorgefertigte Bild von zwei Höckern und Trampelhufen. Aber sonst? Warum soll ich mich für die Lebensweise eines Kamels interessieren?
Ich beobachte am Sonntag auch gerne mal, wie unsere Besucher auf die Tiere reagieren. Wichtig erscheint mir die Interaktion zwischen Tier und Mensch, insbesondere im Streichelzoo oder bei der direkten Fütterung. Es gibt immer mehr Menschen, die sich auch die Zeit nehmen, ein Tier zu beobachten: Wie bewegt sich überhaupt das Trampeltier? Dann sieht man zum Beispiel, dass das Trampeltier seine Nasenlöcher ohne irgendeine Berührung schließen kann.
Ein entscheidender Vorteil eines Tiergartens ist, dass man Tier hier mit allen Sinnen wahrnehmen kann. Wir haben am Sonntag hier die Stinktiere gechippt und sie haben ihr Sekret versprüht und die Besucher haben das noch in zehn Meter Entfernung gerochen. Jeder, der dabei war, weiß jetzt, wie ein Stinktier riecht und vergisst dies nicht mehr. Wir benötigen eine emotionale Bindung und Erfahrung, um ein Verhältnis zu Tieren aufzubauen.
Das ist für Sie ein wichtiger Ansatz: Tiere erlebbar machen.
Ja, wir möchten Emotionen wecken und Menschen für Tiere begeistern. Denn nur was man kennt, schützt man auch. Und dann kommen wir zur Verantwortung, die auch der Soziologe Schroer in seinem Buch genannt hat: Denn wir befinden uns bereits in einem großen Massensterben. Wir Menschen sind die einzige Tierart, die in der Lage ist, andere Tierarten auszurotten. Wir sind aber auch die einzige Tierart, die in der Lage ist, andere Tierarten vor der Ausrottung zu bewahren. Jeden Tag sterben bis zu 140 Tierarten aus. Und dieses große Massensterben ist teilweise durch den Menschen bedingt. Hier sehen wir uns in der Verantwortung, dieses massive Artensterben wieder in den Griff bekommen.
Menschen sehen Tiere häufig nur als Objekt. Wer bestimmt, ob es ein Nutztier ist, ob es uns Angst macht oder ob es zum Kuscheln aufs Sofa darf? Und wir haben ein statisches Bild, als ob sich Tiere nicht weiterentwickeln können.
Bei Orang-Utans hat man zum Beispiel herausgefunden, dass die Tiere Werkzeuge benutzen können und sich Schlafnester bauen. Das heißt: Die Weitergabe von Informationen und kulturelle Entwicklung können wir bei höher entwickelten Arten auch beobachten. Deswegen: Auch Tierarten können sich weiterentwickeln.
Müssen wir Tieren mehr Persönlichkeit zugestehen?
Auf jeden Fall. Jedes Tier hat seinen Charakter, das merken wir im Zoo ganz intensiv.
Inwiefern betreiben Sie hier Verhaltensforschung?
Wir haben in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut in Nimwegen eine eine Doktorandin für die Seehunde beschäftigt. Sie erforscht das Lernverhalten der Seehunde und die Laute der Tiere. Wir sehen hier interessante Entwicklungen. Wir haben eine Seehündin, die Bettellaute von sich gibt, die vom Tierpfleger konditioniert worden sind, weil sie dann Fisch bekommen hat. Die anderen Seehunde haben daraus gelernt und sich die Verhaltensweisen abgeguckt.
Ein neuer Umgang mit der Erde
Im Kern geht es im Buch „Geosoziologie - Die Erde als Raum des Lebens“ von Markus Schroer um den Umgang, den wir mit der Erde pflegen. Der Klimawandel, das Artensterben, der ungeheuere Konsum und die damit verbundene Zerstörung unserer Lebensgrundlage führen uns vor Augen, dass wir unser Verhältnis zu Pflanzen und Tieren verändern müssen. Markus Schroer gibt anregende Denkanstöße.Markus Schroer, Geosoziologie. Die Erste als Raum des Lebens. 657 Seiten. Erschienen bei Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 30 Euro.
Der Soziologe Markus Schroer schreibt, dass selbst als gesichert geltende Verhaltensweisen von Tieren, etwa die Hierarchiebildung bei Wölfen oder Pavianen, sich in der heutigen Forschung nahezu in Luft auflösen. Diese Erkenntnisse zwingen uns zu anderen Tierbildern, oder?
Absolut. Wir Zoos sind uns bewusst, dass einst gesicherte Erkenntnisse, quasi Grundlagenergebnisse, nicht immer so stimmen. Wir sind da offen für Neues und die Grundlagenforschung zeigt uns, dass wir alte Annahmen über Bord werfen müssen. Bestes Beispiel ist das Sozialverhalten von Rüsselspringern, darüber habe ich diplomiert. Früher ging man davon aus, dass diese kleinen Säugetiere absolute Einzelgänger sind, weil sie sich im Zoo nicht gut miteinander vertragen haben. Heute weiß man, dass es monogame Tiere sind, die aber auch gewisse Ansprüche an ihren Partner stellen. Wir errichten jetzt eine Anlage, bei der sich die Rüsselspringer ihren Partner besser aussuchen können.
Ein massives Artensterben hat eingesetzt. Welchen Beitrag können Tiergärten zum Schutz leisten?
Wenn es Tiergärten noch nicht gäbe, müssten wir sie erfinden. Viele Tierarten gibt es künftig nicht mehr, wenn wir uns nicht um ihren Schutz bemühen. Die Artenschutzaufgabe von Zoos ist wichtiger denn je. Wir fangen in Kleve jetzt mit den Erhalt von Zweifarbentamarinen an, eine der seltensten Affenarten der Welt. Wir wollen hier eine Population im Zoo aufbauen und andererseits unterstützen wir jährlich mit 10.000 Euro ein Artenschutzprojekt in Brasilien, welches sich um den Schutz der Zweifarbentamarine im natürlichen Lebensraum kümmert. Es ist wichtiger denn je, dass wir uns zu Artenschutzzentren entwickeln.
Nutztiere sind aus unserem Blickfeld ganz verschwunden. Kühe, Schweine, Hühner, Puten werden in Ställen gehalten. Müssen wir sie im Zoo ausstellen?
Auf jeden Fall müssen wir auch Nutztiere zeigen. Jeder der tierische Produkte konsumiert, der sollte wissen, wo diese Produkte herkommen. Der Konsument bestimmt, wie das Fleisch produziert wird. Daher ist mir der Bildungsauftrag im Bereich der Nutztiere so wichtig. Wir planen einen großen Schau-Bauernhof, wo wir auch über Lebensmittelproduktion aufklären.
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Markus Schroer fordert in seinem Buch, dass wir von der Sichtweise „Hier der Mensch, dort die Tiere“ wegkommen müssen. Dass wir uns klar machen müssen, dass Tiere einen lebensnotwendigen Nutzen auch für uns haben – nicht nur als Nahrungsmittellieferant, sondern für den Erhalt unserer Ökosysteme. Inwiefern lehren Sie dieses Bewusstsein hier im Tiergarten?
Da gibt es noch sehr, sehr viel, was man den Menschen vermitteln kann. Für das Ökosystem sind Insekten unglaublich wichtige Tiere und sie sind in erster Linie vom Massensterben betroffen. Das einfachste, was jeder tun kann, um die Insektenwelt zu fördern, ist Honig vom heimischen Imkern kaufen. Als Tierpark haben wir hier einen schwierigen Grat, auf dem wir uns bewegen müssen: Einerseits sind Insekten unglaublich wichtig, aber fragen sie mal, wie viele Menschen zu uns für die Bienen kommen? Die Leute wollen Säugetiere sehen. Nur über den Schutz der Säugetiere schützen wir auch die Lebensräume von kleinen Spinnen oder Wanzen.
Ein anderes Thema sind Pflanzen, ohne die wir gar nicht leben könnten. Sie haben hier einen sehr schönen Baumbestand. Müssen sie diesen Park auch stärker präsentieren?
Wir arbeiten hinter den Kulissen an einer Beschilderung für bestimmte Pflanzenarten. Wir versuchen auch, Pflanzenpatenschaften anzubieten. Da haben wir noch Potenzial und wollen pädagogisch stärker darauf eingehen.