Kreis Kleve. Amtsärztin Martina Scherbaum erläutert die Corona-Lage im Kreis Kleve. Wenn Kontakte nicht eingeschränkt werden, liege die Inzidenz bald bei 400.

Es ist äußerst selten, dass Amtsärztin Dr. Martina Scherbaum starke Worte benutzt. Aber in ihrem Lagebericht am Mittwochnachmittag im Kreis-Gesundheitsausschuss gab sie doch ein klein wenig den Lothar Wieler. Ähnlich wie der RKI-Chef zuvor, sprach Scherbaum von einem „Flächenbrand“, der sich im Kreis Kleve ausgebreitet habe. Die vierte Corona-Welle erfasse diesmal alle Altersgruppen. Es gebe ein allumfassendes Ausbruchsgeschehen.

Die aktuelle Infektionslage

Martina Scherbaum sieht zurzeit eine sehr dynamische Infektionslage. Täglich kommen zahlreiche neue Fälle rein. Mittlerweile seien fünf Prozent der Gesamtbevölkerung mit dem Virus infiziert gewesen. Bereits jetzt habe man mehr Coronafälle als im Jahr 2020. „Wir haben mit einem Anstieg der Fallzahlen gerechnet, aber nicht mit einem so schnellen Geschehen“, sagt Scherbaum. Zurzeit müsse sie zwei Mal pro Woche die Organisation umstellen, um alles zu händeln.

Die Zahl der positiv getesteten Personen steigt deutlich an.
Die Zahl der positiv getesteten Personen steigt deutlich an. © NRZ | Andreas Gebbink

Die Prognose

Die ärztliche Leiterin des Gesundheitsamtes wagte in ihrem Bericht eine Prognose für die kommenden vier Wochen. Anhand des bisherigen Verlaufs dürfe man erwarten, dass die Sieben-Tage-Inzidenz Mitte Dezember bei über 400 liegen dürfte, wenn jetzt nicht wieder deutlich die Kontakte eingeschränkt werden. Auch die Zahl der Krankenhauseinweisungen werden dann rasch steigen. „Das kann dann gar nicht anders sein“, so Scherbaum.

Es müssen sich deutlich mehr Menschen in der Altersklasse 18 bis 59 impfen lassen.
Es müssen sich deutlich mehr Menschen in der Altersklasse 18 bis 59 impfen lassen. © Astrid Hoyer-Holderberg | Astrid Hoyer-Holderberg

Das Impfen

Um die Katastrophe in den Krankenhäusern abzuwehren, müsse mehr geimpft werden. Scherbaum präsentierte Zahlen, die aufhorchen lassen: So liegt die Quote der Zweitimpfungen bei den über 60-Jährigen im Kreis Kleve bei nahezu 100 Prozent (99,82 Prozent). Die größten Probleme gebe es in der Gruppe der 18 bis 59-Jährigen. Hier gebe es einfach noch zu viele Impfverweigerer. Die Quote beträgt 77,75 Prozent. Bei den Kindern und Jugendlichen ab zwölf Jahren liegt die Zahl der Geimpften bei 60,51 Prozent.

Die Impfsituation im Kreis Kleve.
Die Impfsituation im Kreis Kleve. © Anda Sinn | FUNKEGRAFIK NRW Denise Ohms

Scherbaum betonte, dass man für eine Herdenimmunität bei der Delta-Variante eine Impfquote von 95 Prozent unter den Erwachsenen haben müsse, um auf eine Impfquote von 85 Prozent in der Gesamtbevölkerung zu erhalten. Sollte dies in diesem Winter nicht gelingen, werde es im nächsten Jahr weitere Corona-Wellen geben, so ihre Prognose. Und zurzeit sei man von den geforderten Impfwerten noch weit entfernt. Die Erstimpfquote bei den 18- bis 59-Jährigen liegt nur bei 82,63 Prozent. Entsprechend werde die Gesamtimpfquote bei den Erwachsenen in den nächsten sechs Wochen auf keinen Fall die erforderliche 95 Prozent erreichen.

Aber es bewegt sich etwas: Hoffnung bereiten die Zahlen der mobilen Impfeinheiten, die seit dem 21. Oktober unterwegs sind. Hier wurden bislang 4920 Menschen geimpft, darunter waren 1216 Erstimpfungen, 1519 Zweitimpfungen und 923 Drittimpfungen.

Die Impfeffektivität

Wie wirken die Impfungen überhaupt? Auch dazu hatte Scherbaum Zahlen präsentiert. So schützen die Impfungen zu 80 Prozent vor einer symptomatischen Infektion, also einer Infektion mit Beschwerden. Ferner schützen die Impfungen zu 80 bis 90 Prozent vor einer Krankenhausaufnahme und ebenfalls zu 80 bis 90 Prozent vor einer Aufnahme auf die Intensivstation. Vor dem Tod würden sie zu 70 bis 90 Prozent bewahren. „Die Impfung ist nicht perfekt, aber sie bietet den höchsten Schutz, den wir haben“, sagte Scherbaum.

Die Ungeimpften

Wer sich bislang noch nicht hat impfen lassen, der geht ein deutlich höheres Risiko ein, schwer zu erkranken. Im Kreis Kleve lag die Inzidenz der Geimpften am 7. November schätzungsweise bei 50 bis 60, bei den Ungeimpften hingegen läge sie bei 230 bis 240. „Wir haben also eine deutlich höhere Infektionsrate bei den Ungeimpften“, so Scherbaum. Und die seien es jetzt auch, die deutlich häufiger im Krankenhaus liegen als die geimpften Personen. Gleichwohl haben die Impfdurchbrüche seit dem 7. November auch im Kreis Kleve deutlich zugenommen.

Die Krankenhaussituation

Aktuell werden im Kreis Kleve 17 Prozent der Intensivbetten von Covid-19-Patienten beansprucht. Diese Zahl lag schon mal bei 20 Prozent, und Martina Scherbaum geht auch davon aus, dass dieser Anteil in der aktuellen Welle wieder erreicht werden wird. Über die Hospitalisierungsrate als Leitindikator ist Scherbaum übrigens nicht glücklich, da die Krankenhäuser erst mit einer Verspätung von zwei bis drei Tagen ihre Werte melden.

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Am Mittwoch waren 42 Menschen im Kreis Kleve im Krankenhaus, fünf befinden sich auf der Intensivstation und eine Person wird beatmet. Unter den schwer Erkrankten mischten sich auch immer mehr geimpfte Personen, in der Regel seien es alte Menschen, deren Immunsystem geschwächt ist. Neu sei, dass es nun auch Todesfälle in der Gruppe ab 55 Jahren gebe.

Martina Scherbaum sieht die Versorgung in den Krankenhäusern „noch gewährleistet“. Aber die Situation werde enger. Seit dieser Woche gebe es Konferenzen zwischen der Bezirksregierung und dem Rettungsdienst, unter anderem über die Frage, welches Krankenhaus künftig mit Covid-19-Patienten angesteuert werden muss.

Für die Kontaktnachverfolgung soll wieder die Bundeswehr anrücken. Der Antrag wurde gestellt.
Für die Kontaktnachverfolgung soll wieder die Bundeswehr anrücken. Der Antrag wurde gestellt. © Funke Foto Services GmbH | Thorsten Lindekamp

Die Kontaktnachverfolgung

Eine zügige Kontaktnachverfolgung könne man im Kreis Kleve noch bis zu einer Inzidenz von 100 gewährleisten. Darüber hinaus sei dies nicht mehr so möglich: „Wir sind in einer schwierigen Lage. Aber mehr können wir nicht“, so Scherbaum.

Sie bedauert, dass jetzt nicht mehr mit jedem Infizierten ein Gespräch möglich sei: „Diese Gespräche sind ganz wichtig, weil es einen enormen Aufklärungsbedarf gibt und weil viele Infizierte auch Ängste haben“, sagt Scherbaum. Diesen Ängsten könne man mit einem Gespräch gut begegnen. Leider sei dies aktuell nicht mehr möglich, auch wenn man sich darum bemühe: „Die Masse der Infektionen ist ein großes Problem“, sagte die Amtsärztin. Ob die Bundeswehr tatsächlich zum Einsatz komme, wisse sie noch nicht. Der Antrag sei gestellt worden.