Bedburg-Hau. Die Stationen der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LVR-Klinik Bedburg-Hau sind voll. Die NRZ sprach mit der Leitenden Oberärztin Melek Kirisgil.

Homeschooling, Abstand halten, keine Freunde treffen – die Corona-Pandemie hat Kindern und Jugendlichen einiges abverlangt. Nicht alle konnten unbeschadet mit der Krise umgehen. Vor den Folgen warnen Soziologen, Psychologen und auch Psychiater seit Längerem. Sozialpolitische Veränderungen wären nötig, findet die leitende Oberärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der LVR-Klinik Bedburg-Hau, Melek Kirisgil. „Wir dürfen Kinder und Jugendliche nicht vergessen.“ Die NRZ sprach mit ihr darüber, was Corona mit Kindern und Jugendlichen macht.

„Wir bemerken Veränderungen im Klinikalltag hinsichtlich der Wartelisten für einen Platz auf unseren Stationen“, sagt die Ärztin. Im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie habe es einen deutlichen Anstieg gegeben, die drei Stationen mit ihren 36 Plätzen seien ausgelastet. „Vor Corona hatten wir immer noch Kapazitäten frei, das ist jetzt nicht mehr so.“ Es habe fast einen Run auf die Stationen gegeben, hat Kirisgil beobachtet.

„Unsere Patienten entwickeln Angststörungen, sind verunsichert“

Das gilt nicht nur für den stationären/tagesklinischen Bereich. Auch ambulant meldeten sich viele Patienten mit coronabedingten Problemen. „Unsere Patienten entwickeln Angststörungen, sind verunsichert und reagieren damit auf politische Entscheidungen wie etwa den Lockdown.“ Die Entwicklung ist dramatisch: „Zu uns kommen mittlerweile Kinder und Jugendliche, die zuvor gar nicht hergekommen wären, sondern eher einen Kinderarzt, Einrichtungen der Caritas oder Schulsozialarbeiter aufgesucht hätten“, berichtet die Psychiaterin. Die Probleme entstünden aus sehr unterschiedlichen Gründen. Es spiele eine Rolle, wie die Familien unterstützt werden, wie das Zusammenspiel mit dem Umfeld funktioniert und was Schulen zu leisten in der Lage sind.

Melek Kirisgil ist leitende Oberärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der LVR-Klinik Bedburg-Hau.
Melek Kirisgil ist leitende Oberärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der LVR-Klinik Bedburg-Hau. © LVR-Klinik Bedburg-Hau

Im Bereich der Schulen mit Förderschwerpunkten sei vieles geradezu eskaliert, beschreibt Kirisgil die Lage. Integrationshelfer oder Sozialpädagogen, die vieles abfingen, hätten den Kindern durch die Schulschließungen gefehlt. „Menschen mit geistiger Behinderung hatten keine Rahmungen und kein ausreichendes soziales Netzwerk mehr.“

In der stationären Versorgung habe die LVR-Klinik derzeit depressive Patienten, deren Symptomatik sich verstärke, so die Ärztin.

Jugendliche trauen sich den Schulalltag nicht mehr zu

„Sie entwickeln Angststörungen, die zur Schulvermeidung führen.“ Auch die Wiederöffnung der Schulen löse dieses Problem oft nicht. „Die Jugendlichen entwickeln eine soziale Phobie und trauen sich den Schulalltag nicht mehr zu.“ In normalen Zeiten, ist Kirisgil sicher, hätten die Kinder diese Problematik so extrem nicht entwickelt. „Jetzt meiden sie große Gruppen und haben Angst in der Menschenmenge.“

Auch die sogenannte Krisenintervention habe sich von üblicherweise zwei bis vier Tagen stationär auf zum Teil bis zu zehn Tage verlängert. Hierher kommen junge Menschen bis 18 Jahren. Ganz konkret haben sie Angst davor, sich mit Corona zu infizieren. „Viele von ihnen fürchten, vorerkrankte Angehörige anzustecken und ziehen die freiwillige Isolierung vor, um sie zu schützen“, erklärt Kirisgil.

Betroffen sind aber auch Schülerinnen und Schüler, die mit dem Homeschooling nicht zurecht kommen und Konzentrations- und Leistungsstörungen erfahren. „Probleme mit der heimischen Software führen mit der Zeit zu Frustration und zu Zweifeln, Schule überhaupt noch zu können“, so die Psychiaterin. Man merke einfach, dass Kinder vieles alleine machen mussten.

Besonders betroffen sind Familien, deren soziales Netz zerrissen ist

Besonders davon betroffen sind Familien, bei denen das soziale Netz ohnehin zusammengebrochen ist, wenn die Kinder in Heimen oder Pflegefamilien aufwachsen. „Uns fällt einfach ganz gravierend auf, dass jetzt die zu uns kommen, die bisher nie bei uns waren“, sagt Kirisgil. Zum Beispiel der junge Autist, der rational erfasst, was passiert ist, der aber emotional in ein Loch fällt. „Das sind Menschen, die eigentlich nicht zusätzlich auffallen, aber aktuell ins Straucheln kommen“, sagt sie.

„Wir merken gerade in allen drei Bereichen der Klinik – Tagesklinik, stationär und ambulant –, dass den Kindern und Jugendlichen die Fähigkeiten, Lösungen zu finden, fehlen, weil Personen-Netzwerke wegfallen und Eltern eben nur manches kompensieren können.“ Es sei ohnehin so, dass sich in den Kindern widerspiegele, wenn Eltern emotional nicht nah bei ihnen seien, weiß die Ärztin. „Das ist dann eine Kombination aus Bildung, emotionalen Fertigkeiten und den jeweiligen sozialen Umständen.“ In ihrer Therapie hält die Klinik ein sogenanntes multimodales Angebot bereit. „Wir arbeiten nicht defizitär, sondern versuchen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten unserer Patienten einzubauen, zu aktivieren und beziehen die Familien mit ein.“

Bei ihrer Prognose für die Zukunft ist Melek Kirisgil vorsichtig. Es sei schwer zu sagen, wie sich die Situation entwickle. „Corona prägt uns alle – auch die Kinder. Patienten, für deren Probleme Corona hauptsächlicher Auslöser ist, wünschen sich den Zustand vor der Pandemie zurück.“ Für sie gebe es gute Chancen auf Besserung, weil die Ursache fassbar sei – obwohl eine nächste Grippewelle erneut ähnliche Ängste auslösen könnte. Bei den übrigen Patienten sieht sie, dass „auch sie ihre Ziele werden erreichen können“. Wie schnell sie dies schafften, sei aber schwer zu sagen.