Die Niederlande ergreifen drastische Maßnahmen, um Stickstoffeinträge in Natura-2000-Gebieten zu reduzieren. Warum geschieht dies nicht bei uns?
Kreis Kleve. Tempo 100 auf den Autobahnen, 17.000 Baustellen quasi über Nacht stillgelegt und drastische Einschränkungen für die Landwirtschaft beschlossen – die Niederländer machen in Sachen Stickstoffbekämpfung zurzeit keine halben Sachen mehr. Von einem EuGH-Urteil gezwungen, müssen die Nachbarn drastische Maßnahmen einleiten, um die europäischen Natura-2000-Gebiete wirklich zu schützen (wir berichteten).
Doch wie sieht es eigentlich in Deutschland aus? Auch im Kreis Kleve gibt es viele Natura-2000-Gebiete. Und auch hier sind die Stickstoffeinträge deutlich zu hoch. Müssen wir die Natur nicht stärker schützen? Drohen uns bald „niederländische Verhältnisse“? Die NRZ hakte nach.
Belastungsgrenzen sind auch im Kreis Kleve überschritten
Dietrich Cerff schaut auf seinen Computer. Der Leiter der Nabu-Naturschutzstation mit Sitz in Kleve-Rindern hat eine Karte aufgetan, die die Stickstoffbelastung am unteren Niederrhein und in den Niederlanden dokumentiert. Im Grunde zeigen die Farbverläufe keine Unterschiede: Alles ist feuerrot. Und das bedeutet: Zu viel Ammoniak, zu viele Tiere. Der Critical Load – also die kritische Belastungsgrenze für die Natur – sei in nahezu allen Natura-2000-Gebieten deutlich überschritten, sagt Dietrich Cerff.
Für den Biologen sind das aber nicht nur abstrakte Bildchen und Zahlen. Dietrich Cerff sieht die Auswirkungen vor Ort in der Natur. Besonders deutlich sei ein Zuviel an Stickstoffen im Reichswald zu erkennen. Hier schießen die Brennnesseln, Hexenkraut, Him- und Brombeeren oder die Knoblauchrauke ins Kraut. Die Brennnessel liebt nährstoffreiche Böden. Doch was für die Nessel gut ist, ist für den Wald mitunter schlecht. Der gesamte Boden verändert durch Stickstoffeinträge (Deposition) seine Zusammensetzung. Die Bäume lagern den Stickstoff normalerweise als Eiweiß in ihren Blättern ab. Aus Messungen in den Niederlanden wird deutlich, dass bei hohen Stickstoffeinträgen in den Waldboden, dieser jedoch in anderen biochemischen Verbindungen in den Blättern eingebaut wird. Und hier überträgt sich das Problem auf viele Raupen, die ihrerseits die wichtigste Nahrungsquelle für sehr viele Jungvögel im Wald sind. Blätter mit diesen Verbindungen sind offenbar schlecht für sie. „Das lässt vermuten, warum Tagfalter so extrem zurückgegangen sind“, sagt Cerff. Fütterungsversuche an Tagfalterraupen der Unis Osnabrück und Münster haben dies bestätigt. Das Umweltbundesamt verzeichnet für den Reichwald Stickstoffeinträge zwischen 41 und 50 Kilogramm je Hektar und Jahr. Verträglich für Wälder wäre maximal ein Viertel der Menge: 10 bis 20 Kilogramm. Von Natur aus wäre es etwa ein Kilogramm.
Regenwürmer leiden unter zu viel Nitrat im Boden
Auch andere Gebiete sind betroffen: Das Kranenburger Bruch, die Emmericher Ward, die Knauheide bei Elten oder das Wylermeer. Hier haben massive Stickstoffeinträge Auswirkungen auf die Natur und deren Kreisläufe: Amsterdamer Biologen haben etwa herausgefunden, dass Regenwürmer durch starke Nitrateinträge kleiner und weniger leistungsfähig werden. Sie nehmen in ihrer Zahl auch deutlich ab. Biologen der Nabu-Naturschutzstation haben festgestellt, dass Flächen, die aus der intensiven Bewirtschaftung genommen wurden (Extensivierung), mitunter Jahre brauchen, bis man Erfolge in Form von zunehmender Anzahl an Kräutern und Blumen verzeichnen kann. Die Vorgänge im Boden brauchen lange.
Während in den Niederlanden seit Wochen und Monaten eine erbitterte Diskussion über die Stickstoffbegrenzung geführt wird, konzentriert sich in Deutschland die Debatte auf CO2-Ausstoß sowie Nitrat- und Feinstaubbelastung – ohne dass wirkliche Konsequenzen gezogen werden. Warum?
Dietrich Cerff sieht einen entscheidenden Unterschied in der Konkretisierung der EU-Vorgaben. Zwar haben Natura-2000-Gebiete grundsätzlich für alle europäischen Staaten den gleichen Schutzstatus – nämlich einen sehr hohen –, wie dieser aber gewährleistet wird, darüber dürfen die Mitgliedstaaten der EU selbst entscheiden. In den Niederlanden gibt es klare Grenzwerte. Für jedes Naturschutzgebiet schreibt der Staat vor wieviel Stickstoffeinträge zulässig sind. Ist die Grenze erreicht, darf nichts mehr hinzukommen: „Und nichts heißt hier auch nichts“, verdeutlicht Cerff.
In Deutschland ist man beim Umweltschutz lockerer
In Deutschland gibt es zwar auch für jedes Naturschutzgebiet eine Beschreibung mit einem Vermerk kritischer Stickstoffbelastungen, aber diese sind nicht als feste Grenze definiert. Das Zauberwort in Deutschland lautet „Bagatellgrenze“. Während in den Niederlanden sämtliche Einträge in ein Naturschutzgebiet aufsummiert werden, wird in Deutschland etwas laxer damit umgegangen.
Das Bundesumweltministerium erklärt der NRZ: Bei einem Genehmigungsverfahren wird zunächst geschaut, ob bei einem Bauvorhaben Stickstoffeinträge von mindestens 0,3 kg Stickstoff pro Hektar und Jahr zu rechnen ist. Befindet sich in der Nähe des Vorhabens ein Natura 2000-Gebiet, so ist weiter zu untersuchen, ob die so genannte „Gesamtbelastung“ dieses Gebiets mit Stickstoffeinträgen („Critical Load“) nicht überschritten wird.
Ausnahmen sind möglich
Wird der betreffende Critical Load nicht eingehalten, so ist in einem dritten Schritt zu prüfen, ob zumindest die so genannte „Bagatellschwelle“ nicht überschritten wird. Die Rechtsprechung habe anerkannt, dass eine Überschreitung von drei Prozent des Grenzwertes zulässig sein kann, um die Verhältnismäßigkeit zu wahren, so das Bundesumweltministerium. Ist sogar die Bagatellgrenze überschritten, gibt es noch die Möglichkeit weitere Ausnahmegenehmigungen zu erhalten.
Bespiel: Ein Landwirt will in einem Natura-2000-Gebiet seine Stallung erweitern und bleibt damit knapp unter der zulässigen Stickstoffgrenze, dann ist das genehmigungsfähig. Wenn aber 500 Meter entfernt ein anderer Landwirt ebenfalls unter der zulässigen Stickstoffgrenze etwas bauen möchte, dann wird auch dies genehmigt - obwohl die Ställe zusammen genommen, die zulässige Grenze bereits überschritten haben.
In Deutschland geht die Salamitaktik auf
Die deutsche Praxis – Cerff nennt sie „Salamitaktik“ – ist vom Bundesverwaltungsgericht bisher höchstrichterlich bestätigt worden. Ob dies aber mit europäischem Naturschutzrecht vereinbar ist, müsste letztlich der Europäische Gerichtshof klären – bislang hat noch niemand in Luxemburg geklagt.
Der Naturschutzbund möchte eigentlich nicht klagen, sondern versucht es mit Einsicht bei der Politik: „Das wäre am einfachsten und auch sehr viel rechtssicherer als der Klageweg“, sagt Cerff.
Die meisten Stickstoffeinträge über die Luft verursacht die Landwirtschaft. Nur 20 Kilogramm je Hektar und Jahr kommen aus der Luft.
Naturschutzberichte sind ein Zeugnis des Scheiterns
Über den Zustand der Naturschutzgebiete muss die Bundesregierung alle sechs Jahre die EU-Kommission informieren. In den Berichten ist dann meist zu lesen, wie schlecht es um den Zustand der Schutzgebiete bestellt ist: der Pflanzenreichtum nimmt ab und auch die heimischen Vogelarten haben es schwer. Über den Insektenschwund steht fast gar nichts in den Berichten. Der Lebensraum wird massiv bedroht - und trotzdem ändert sich am Ende meist wenig bis gar nichts.
Dietrich Cerff erhofft sich jetzt gewisse Verbesserungen durch die neue Düngeverordnung, auch wenn diese nicht in erster Linie darauf abzielt, die FFH-Gebiete zu schützen. Trotzdem würde eine Reduzierung der Düngung und eine Verbesserung der Ausbringungstechnik die Stickstoffbelastung der Naturgebiete reduzieren. In den Niederlanden wird jetzt über weniger eiweißreiches Futter diskutiert (und angeordnet) sowie über das Aufkaufen von Bauernhöfen, um den Viehbestand deutlich zu reduzieren.
Gedeckt durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird es in Deutschland vorerst keine „niederländischen Verhältnisse“ geben, obwohl die Natura-2000-Gebiete ähnlich kritisch belastet sind wie im Nachbarland. Der europäische Gerichtshof hat allerdings bereits mehrmals in anderen Urteilen zu erkennen gegeben, dass die europäischen Naturschutzgebiete auch tatsächlich zu schützen sind und schlechte Zustände verbessert werden müssen.
>>Natura-2000-Gebiete im Kreis Kleve
Zu den wichtigsten Natura-2000-Gebieten im Kreis Kleve gehören der Reichswald, das Kranenburger Bruch, die Emmericher Ward, das Wylermeer, die Knauheide in Elten, die Fleuthkuhlen in Geldern, der Uedemer Hochwald oder das Vogelschutzgebiet Unterer Niederrhein.
Unter Natura-2000-Gebiete versteht man Vogelschutzgebiete und die FFH-Schutzgebiete (FFH = Flora-Fauna-Habitat), die seit 1992 von der EU-Verordnung geschützt sind.
>> Was ist Stickstoff?
Stickstoff (N2) ist ein farb- und geruchloses Gas, das uns permanent umgibt. Zirka 78 Prozent unserer Luft besteht aus Stickstoff. Stickstoff an sich ist nicht schädlich.
Aber es gibt Stickstoffverbindungen, die sehr wohl schädlich sein können, wenn sie ins Grund- oder Oberflächenwasser oder in die Luft gelangen: Stickstoffoxide (NOx, eine Verbindung von Stickstoff und Sauerstoff) zum Beispiel. Diese werden durch Abgase des Verkehrs oder der Industrie verursacht. Ammoniak (NH3) wird vor allem in der Viehzucht freigesetzt.
Diese Substanzen werden „reaktiver Stickstoff“ genannt, da sie im Gegensatz zum Luftstickstoff verschiedene Reaktionen eingehen können, z.B. können sie von Pflanzen zu Eiweiß verarbeitet werden. In diesem Artikel wird der Begriff „Stickstoff“ meist vereinfachend für „reaktiver Stickstoff“ verwendet.
vier Begriffe sind in der Stickstoffdiskussion wichtig: die Konzentration (Wie viel Stickstoff befindet sich in der Luft?), die Emission (Wie und wieviel kommt der Stickstoff in die Luft?), die Deposition (Wie kommt der Stickstoff in den Boden?) und die Immission (Wie und wieviel schlägt sich in den Naturschutzgebieten nieder. Daraus resultiert die Belastung des Gebietes in Form der Stickstoffmenge, die eingetragen wird.
Der Critical Load ist die Menge, die das Ökosystem aushalten kann, ohne Schaden zu nehmen.
>> Weiterführende Informationen
Zur Stickstoffproblematik in Deutschland. (Leicht verständliche Broschüre)
Stickstoffbilanzen in Deutschland.
Wirkung von Stickstoff auf Wälder. (Niederländische Studie)
Eine gute deutsche Studie zu Wirkungen auf den Wald.
Natura-2000-Gebiete in NRW.