Goch. Kinder von Leiharbeitern leiden unter den menschenunwürdigen Lebensverhältnissen. Eine Lehrerin aus Goch schildert den Fall einer 13-Jährigen.
Kaum eine Schülerin habe sie in ihrer Laufbahn als Lehrerin derart beschäftigt wie Viktória B. (Name von der Redaktion geändert). Die Pädagogin, die namentlich nicht genannt werden möchte, begleitet das 13-jährige Mädchen aus Ungarn seit dem Oktober vergangenen Jahres beim Ankommen in Goch.
„Von Anfang an war das Mädchen merkwürdig verschüchtert, verängstigt und laufend krank“, erklärt sie. Die Mutter der Schülerin arbeite in einem niederländischen Schlachthof und werde täglich in den frühen Morgenstunden mit ihren osteuropäischen Kollegen per Kleinbus ins Nachbarland gefahren. Der Vater lebe nicht in Deutschland. „Das Kind machte auf mich einfach einen wahnsinnig schlechten Eindruck, daher schaltete ich recht früh das Jugendamt ein“, sagt die Lehrerin.
„Die 13-jährige Schülerin wollte auf gar keinen Fall, dass ich mit ins Haus komme“
Im Januar habe sich dann die Gelegenheit ergeben, dass sie Viktória B. von der Schule nach Hause brachte. Abermals habe sie in der Klasse nämlich Krankheitssymptome gezeigt. Die Adresse des Mädchens: ein als Leiharbeiter-Unterkunft bekanntes Haus an der Kalkarer Straße in Goch. „Die Hausnummer, die man uns bei der Einschulung genannt hatte, stimmte nicht. Sie lebte zwei Häuser weiter und wollte auf gar keinen Fall, dass ich mit ins Haus komme“, erinnert sie sich.
Doch sie blieb hartnäckig und forderte Zutritt zur Wohnung von Viktória B. Die Zustände, die sie dort vorfand, seien „schauderhaft“ gewesen. „Wohin man nur schaute: Dreck, Müll, Gestank. Sie lebte in einem Loch, wirklich unfassbar“, sagt die Gocherin. Doch nicht nur das. Auf die Mutter, die kein Deutsch spreche, traf sie in dem Haus nicht. Stattdessen aber auf gleich mehrere „finstere Typen“. „Dort waren viele Männer unterwegs, die mir überhaupt nicht geheuer waren. Ich vermutete schon länger, ohne dass ich einen Beweis dafür habe, dass das Mädchen sexuell missbraucht wird. Das sagt mir mein Bauchgefühl. Ich hoffe so sehr, dass es mich täuscht“, erklärt sie.
So habe sich die Lehrerin erneut dazu gezwungen gesehen, die Behörden einzuschalten. „Als ich wieder zurück in der Schule war, rief ich sofort die Polizei. Ich wollte, dass man diesem Kind unbedingt hilft. Aber so einfach ist das in unserem Land nicht“, sagt sie. Die Polizei habe die Problematik ans Jugendamt weitergegeben. Das Jugendamt habe der Gocherin wiederum dargelegt, dass man in der Vergangenheit bereits zum Hausbesuch an der Kalkarer Straße ausgerückt sei. Dort aber habe man niemanden angetroffen. „Das ist nicht verwunderlich, immerhin stimmte die Hausnummer ja nicht“, sagt die Lehrerin einer weiterführenden Schule.
Die heruntergekommenen Häuser wurden von einem Subunternehmer gekauft
Es sei allerdings bekannt, dass die Häuserreihe vor einiger Zeit von einem Subunternehmer gekauft worden sei, so die Gocherin. Nun lasse er dort Leiharbeiter unter „katastrophalen Zuständen“ wohnen. „Das ist alles schon schlimm genug. Aber in ein solches Haus gehört auf keinen Fall ein Kind“, sagt sie. Der Vermieter der Wohnung fungiere gleichzeitig auch als Ansprechpartner für Behörden, da nur er der deutschen Sprache mächtig sei.
„Das Problem ist, dass man bezüglich eines Missbrauchs nichts beweisen kann, solange die Schülerin schweigt. Aber dass das Jugendamt solche Wohnverhältnisse duldet, finde ich skandalös“, sagt die Lehrerin. Die aktuelle Debatte über die Verhältnisse von Leiharbeitern in der Region sei allerdings eine Chance, die Missstände zu beheben. Immerhin könne nun kein Politiker und keine Verwaltung mehr erklären, von den Zuständen keine Kenntnis zu haben.
„Kein Kind muss in so einem Loch wohnen“
„Nur diese Chance muss jetzt auch unbedingt genutzt werden, damit kein Kind mehr in einem solchen Loch wohnt“, sagt die Pädagogin.
Auch die Stadt Goch beschäftige sich mit dem Fall des ungarischen Mädchens, wie Pressesprecher Torsten Matenaers auf Anfrage unserer Redaktion erklärt. „Der Fall ist uns bekannt. Wir sind da dran, und zwar nicht erst seit gestern“, sagt er. Aus „eigenem Antrieb“ sei man dort aktiv geworden. Nähere Hintergründe könne er aus Gründen des besonderen Schutzes des Persönlichkeitsrechts nicht nennen. Immerhin handele es sich bei Viktória B. um ein minderjähriges Mädchen.