Kleve. Im Sommer 1918 grassierte in Kleve die Spanische Grippe. Der Pandemie fielen viele Menschen zum Opfer. Im Herbst schlug sie dann richtig zu.
Geschichte wiederholt sich nicht, sagen die Historiker. Die sozialen, politischen, rechtlichen und kulturellen Umstände gestalten sich immer anders. Lehren kann man nur selten aus konkreten Ereignissen ziehen. Und doch ist es spannend zu sehen, wie in der Vergangenheit auf große Krisen reagiert wurde. Vor ziemlich genau 100 Jahren grassierte auch in Kleve die so genannte „Spanische Grippe“, der weltweit 27 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind und die auch in der alten Herzogstadt gewütet hat.
Von der Geschichte vergessen
Erstaunlicherweise gibt es gar nicht viele Quellen zur dieser großen Pandemie. Kleves Stadtarchivar Bert Thissen schaute für die NRZ in alten Verwaltungsberichten nach und fand bis auf das anschauliche Sterberegister keine größeren Einträge. Bert Thissen sagt: „Man hat die Spanische Grippe damals als solche wahrgenommen, aber nicht immer ist klar, ob sie die Ursache für den konkreten Sterbefall war. Man befand sich in der letzten Phase des Ersten Weltkriegs, so dass man noch ganz andere Sorgen hatte. Zumindest ab Anfang der belgischen Besatzung standen die Zeitungen überdies unter Zensur.“ In der späteren Geschichtsschreibung sei das Thema weitgehend untergegangen.
Für Kleve weist die Statistik im Jahr 1918 insgesamt 26 Grippetote auf (darunter 21 Frauen) und weitere 41 Menschen starben an einer Lungenerkrankung. Unklar ist, ob hier die Spanische Grippe ursächlich war. Weitere 51 Menschen starben an Tuberkulose - ebenfalls eine gefährliche, bakterielle Lungenerkrankung.
Mangels genauer Analysen ist man auf einige, wenige Berichte im Clevischen Volksfreund angewiesen, die von Juli bis Oktober 1918 erschienen sind. Am 18. Juli 1918 ist dort zu lesen: „Die Spanische Grippe scheint ihren Einzug auch in Cleve bereits gehalten zu haben. Krankheitsfälle sind aufgetreten, die die Symptome jener spanischen Krankheit zeigen; ihr Verlauf ist bis jetzt gutartig.“
Vor allem jungen Menschen starben
Im August 1918 gibt es dann die ersten Todesanzeigen zweier junger Männer, August Bünder und Theodor Hünnekes, die mit 24 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben sind. Aus Berichten der Nachbarstadt Nimwegen ist zu erfahren, dass die Spanische Grippe gerade bei jüngeren Menschen problematisch verlief, da viele Ältere bereits bei der Grippewelle von 1889/90 Antikörper aufgebaut hatten.
Auch in Goch zeigte sich die Sterblichkeit im Herbst 1918 doppelt so hoch wie 1913. Gochs Archivar Koepp geht davon aus, dass 45 Menschen an den Folgen der Grippe gestorben waren.
Die Spanische Grippe
Die Spanische Grippe ist die Mutter aller Grippepandemien. Die Zahl der Toten schwankt zwischen 25 und 100 Millionen Menschen. Der Ursprung der Grippe lag vermutlich in den USA. Als erster infizierter Patient gilt der Armeekoch Albert Gitchell, der im März 1918 an Fieber, Gliederschmerzen und Halsschmerzen litt.
Die Grippe übertrug sich schnell über das Militär. Möglicherweise trugen die grippebedingten Ausfälle an der Westfront auch zu einem schnelleren Ende des Ersten Weltkrieges bei, so der Medizin-Historiker Ronald D. Gerste.
In Kleve lebten 1918 (ohne Materborn und Kellen) 17284 Menschen. Im Normalfall belief sich die Einwohnerzahl auf etwa 19.000.
Am 16. Oktober berichtet dann der Clevische Volksfreund, dass die Spanische Grippe nun auch Cleve heimgesucht habe. Durch die Zahl der Krankheitsfälle machten sich in manchen Betrieben, Unternehmen und Geschäften Störungen bemerkbar. Man müsse sich jetzt mit den noch vorhandenen Kräften behelfen. „Die Art der Fälle sind hartnäckiger wie früher, besonders muss man sich vor den Nachwirkungen hüten; Todesfälle sind immerhin sehr selten“, ist zu lesen. Auch Kinder seien oft Opfer der Grippe. Gerade die Schulen seien besondere Ansteckungsherde. Die Schulbehörde wolle dies beobachten. Ob Kleve damals die Schulen tatsächlich geschlossen hat, ist den Berichten nicht zu entnehmen.
Eine besondere Nachricht war der Tod von zwei Clemensschwestern am 18. Oktober der Zeitung wert. Die Schwestern waren 55 bzw. 24 Jahre alt, sie seien an der tückischen Grippe gestorben. Einen Tag später meldete der Volksfreund, dass ein Theaterstück ausfallen musste, weil Schauspieler von der „Spanischen“ befallen seien.
Für die Stadt Nimwegen gibt es eine Analyse von Rob Wolf, die 2018 in der historischen Zeitschrift „Nijmeegs Katern“ erschienen ist. Nachdem im Juni und Juli sich die Grippe in Europa schnell ausgebreitet hatte, gingen die Zahlen im August und September zurück: „Aber das war nur eine trügerische Sicherheit. Das Virus H1N1 hatte sich weitermutiert und schlug in einer tödlicheren Variante ab Ende September zu.“ In Nimwegen wurden die Schulen geschlossen. Allein im Monat November 1918 starben in Nimwegen 72 Menschen an der Grippe. Für die Monate September und Oktober gibt es keine Zahlen mehr.
H1N1 mutierte im Sommer weiter
Nach der Analyse der Zahlen kommt der Autor zum Schluss, dass vor allem die Gruppe der 20 bis 39-Jährigen am stärksten unter der Grippe gelitten hat. Fast die Hälfte der Nimweger Opfer gehörte in diese Altersklasse.
Warum die spanische Grippe so aus dem Bewusstsein verschwunden ist, hat vermutlich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zu tun. „Der Herbst 1918 war auch ohne Spanische Gruppe dramatisch genug. Nach vier Jahren der Stagnation haben die Alliierten es endlich geschafft, Deutschland an der Westfront zurückzudrängen.“ Die Spanische Grippe war nur eine von mehreren tödlichen Bedrohungen.