Kleve. Dr. Oliver Locker-Grütjen, Präsident der Hochschule Rhein-Waal Kleve/Kamp-Lintfort, spricht über Bildung, Zivildienst und Entschleunigung.

„Warum stellen wir nicht die Zeit etwas zurück, stellen die Beschleunigung in Frage?“, so beginnt Dr. Oliver Locker-Grütjen seinen Leserbrief, der am Freitag in der NRZ erschien. Die NRZ bat ihn zum Interview für etwas ausführlichere Gedanken.

Sie schreiben als Bürger, aber Sie sind auch Präsident der Hochschule Rhein-Waal Kleve/Kamp-Lintfort. Bildung ist Ihr Anliegen. Wo beginnt Ihre Kritik?

Am besten am Beginn des Ablaufs. Zu einem gewissen Zeitpunkt ist der gesamte Bildungsweg beschleunigt worden, dass Kinder im Kindergarten schon Englisch und vielleicht dann bald auch Chinesisch lernen sollen. Das gute Element dabei ist, dass Sprachenlernen in dem Alter einfacher ist. Aber hier wird bisweilen viel zu früh Leistungsdruck erzeugt.

Durch Schulausfall werden diejenigen noch mehr benachteiligt, die es vorher schon waren

Und der setzt sich fort.

Ja, beim Übergang von Kindergarten zu Schule wird schon früh sortiert in Kann-Kinder und Muss-Kinder. Fünfjährige werden eingeschult. In der Schule müssen wir sehr darauf achten, dass die Schere nicht weiter auseinander geht. Durch den Schulausfall derzeit wegen des Coronavirus werden diejenigen noch mehr benachteiligt, die es vorher schon waren. Die es zu Hause schwer hatten zu lernen. Wir bräuchten eher ein System wie in skandinavischen Ländern mit vorrangig kleinen und gemischten Lern-Gruppen.

Beschleunigung und Entschleunigung, das erinnert an G8 und G9, die verkürzte Gymnasialzeit, die aktuell wieder rückgängig gemacht wurde.

Der Bologna-Prozess, dass europaweit vereinheitlicht möglichst alle jungen Leute im gleichen Alter parallel mit der Ausbildung fertig werden, ist nicht uneingeschränkt zielführend. In Skandinavien werden sinnvoller altersgemischte Klassen gebildet entsprechend ihren Voraussetzungen. Bei uns gab es unter G8 den skurrilen Zustand, das 16- oder 17-Jährige mit ihren Eltern an den Hochschulen zur Anmeldung kamen und sie durften bei Erstsemesterpartys nicht mehr nach 24 Uhr dabeibleiben. Wenn sie dann mit 19/20 Jahren sozusagen auf den Arbeitsmarkt kommen, fehlt es an vielen Stellen und die Unternehmen bessern nach.

Ich würde mir für Männer und Frauen eine Pflicht zum sozialen oder ökologischen Jahr wünschen

An welcher Stelle muss sich das Bildungssystem also mehr Zeit lassen?

Es ist wichtig, links und rechts des Tellerrandes zu gucken und das zu jedem Zeitpunkt entsprechend der individuellen Interessen. Die Abschaffung des Wehrdienstes sei dahingestellt, aber die des Zivildienstes war meiner Meinung nach schlecht. Zivildienst hatte zu einer sozialen Schärfung, zu sozialer Reife geführt. Leider nur bei Männern. Ich würde mir wieder für Männer und Frauen eine Pflicht zum sozialen oder ökologischen Jahr wünschen. Zur Unterstützung im Gesundheits- oder Pflegedienst und zur weiteren Entwicklung der jungen Menschen. Gerade in den jetzigen Zeiten würde dies sicherlich immens helfen.

Was haben Sie damals gemacht?

Vor allem war ich bei der Awo für die Pflege eines querschnittsgelähmten Kindes zuständig. Ich habe erlebt, welche Herausforderung das für die Familie war. Ich habe aber auch früh gesehen, worauf es ankommt. Das Mädchen lächeln zu sehen – und das konnte es nur über die Augen – war eine unglaubliche Erfahrung. In den Alltag der Familie eingebunden zu sein ebenso. Noch heute erinnere ich mich immer wieder gerne an die Kleine und ihre Familie – übrigens am Niederrhein lebend.

Sie wünschen jungen Leuten heute mehr Lebenserfahrung statt eines strikten und geplanten Bildungsweges?

Warum muss man junge Menschen auf Teufel komm ’raus früh in den Beruf schicken? Warum lässt man sie nicht ihre Lebensläufe ein bisschen entwickeln?

Sie sind auch Gutachter der Stiftung der Deutschen Wirtschaft, die jährlich Stipendien vergibt.

Ja. Zunehmend wird dabei auf gesellschaftliches Engagement der Bewerber geachtet. Ein Einser-Abi und Einser-Studium reichen nicht aus. Interessanter ist, wer andere sozial unterstützt hat, wer im Ausland war, eine geschliffenere Persönlichkeit ist.

Früher war nicht alles schlechter

Der Zwang, zu Hause zu bleiben in der derzeitigen Coronakrise war Anlass für Ihre Überlegungen. Was würden Sie aus dieser Zeit der Entschleunigung für das Danach hinüberretten wollen?

Zu Hause haben wir in meiner Familie eine quasi Pinnwand, eine weiße Wand mit Rahmen drum herum. Darauf pinnt jeder die positiven Erfahrungen, die er am Tag gemacht hat. Momentan sind es Notizen wie: ‚kein Flugzeug‘ ‚ ‚kein Autolärm am Morgen‘‚ ‚wir hören Vogelgezwitscher‘‚ ‚mehr Zeit‘. Lassen Sie uns künftig anders denken, wenn wir aus der Krise heraus sind. Einen Schritt zurück. Früher war nicht alles schlechter.

Wann war dieses Früher?

So vor 30 Jahren vielleicht, zumindest mein Früher. Die Zeit der Globalisierung und Digitalisierung hat zu solcher Beschleunigung geführt. In den sozialen Medien werden vielfach Meinungen vorgegeben und man nimmt sich nicht immer die Zeit, das zu hinterfragen, selbst zu recherchieren.

Die Wirtschaftswelt wird ihr Tempo aber wohl nicht aufgeben.

Die Beschleunigung hat ja auch positive Aspekte. Es ist doch wahnsinnig und beflügelnd, wie durch Digitalisierung und Globalisierung jetzt weltweit Tausende Wissenschaftler*innen an den Maßnahmen gegen das Virus arbeiten. Erkenntnisse werden vielfach und rasend schnell geteilt. Das war früher unmöglich. Und gegen diesen Fortschritt kann kein Populist an-twittern. Das ist toll. Das muss auch so weiter gehen. Und dabei ist gut, dass die Politik entsprechend auf die Wissenschaft hört und sich beraten lässt, keine Fake News eben. Ich bin froh, dass derzeit etablierte Parteien an der Macht haben. Manchmal ist Establishment auch von Vorteil.

Moderne Methoden können auch neue Möglichkeiten eröffnen

Wird sich also die Wirtschaft nach Ihrer Erwartung verändern?

Wir müssen hinterfragen, ob die schnelllebigen und globalisierten Wertschöpfungsketten noch tragen. Alles ist dermaßen Spitz auf Knopf organisiert. Ein Sandkorn im Getriebe sorgt für Lieferausfälle. Dies zeigt sich z.B. in der Arzneimittelproduktion; hier lassen wir kostengünstig in aller Welt produzieren und es fehlt dann innerhalb des eigenen Landes. Aber auch hier können moderne Methoden, z.B. der 3D-Druck, auch neue Möglichkeiten eröffnen.

Und die Arbeitswelt?

Viele von uns machen jetzt umfangreiche Erfahrung mit dem Home-Office. Das kann eine neue Work-Life-Balance erzeugen. Ich bin überzeugt, dass in vielen Unternehmen und auch bei öffentlichen Arbeitgebern solche Möglichkeiten neu und intensiver überdacht werden.

Haben Sie die Hoffnung, dass die Corona-Pandemie ein Wendepunkt sein kann?

Es ist eine sehr ernstzunehmende globale Krise. Da gibt es nichts zu beschönigen und die anfänglichen Vergleiche mit der Grippe stellen sich zunehmend als hinkend heraus. Aber wir wären nicht Menschen, wenn wir nicht eine Chance darin sehen würden und diese auch nutzten.