Kreis Kleve. Stefan Dietzfelbinger, Hauptgeschäftsführer der IHK, sieht die Unternehmen vor großen Problemen: „Die Lage ist dramatisch.“

Der Zugang zu Einkaufsmalls an Rhein und Ruhr wird reglementiert, Gaststätten und Restaurants müssen schließen, Veranstaltungen fallen aus, Urlaubsreisen sind komplett gestrichen. Das öffentliche Leben und am Niederrhein kommt immer mehr zum Erliegen. Für den Einzelnen ist das im Privatleben mit Einschränkungen verbunden – was aber bedeutet das für die hiesigen Unternehmen? Wie die Wirtschaft mit der Situation umgeht und welche Konsequenzen das hat, darüber haben wir mit Stefan Dietzfelbinger gesprochen, dem Hauptgeschäftsführer der Niederrheinischen Industrie- und Handelskammer.

Dr. Stefan Dietzfelbinger sieht große Probleme für die hiesigen Unternehmen.
Dr. Stefan Dietzfelbinger sieht große Probleme für die hiesigen Unternehmen. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Die Reglementierungen aufgrund des Coronavirus sind noch einmal verschärft worden. Wie ist das durch die Kammer aufgenommen worden? Halten Sie die getroffenen Maßnahmen aus Sicht der Wirtschaft für angemessen oder für übertrieben?

Stefan Dietzfelbinger: Die Gesundheit von uns allen, vor allem der älteren Menschen, steht an erster Stelle. Deswegen tragen die Unternehmen und deren Mitarbeiter die sehr einschneidenden und plötzlichen Maßnahmen mit und helfen mit, wo sie helfen können, vor allem durch großzügige Home-Office-Regelungen. Politik und Verwaltung setzen auf die wissenschaftliche Expertise. Bund, Land, Stadt und die Kreise entscheiden besonnen und kommunizieren gut und ausführlich. Das macht es für die Unternehmer leichter, die damit verbundenen Einschnitte zu akzeptieren, auch wenn deren Wirkung drastisch ist.

Was bedeuten die Maßnahmen für Betriebe und Unternehmen am Niederrhein?

Dietzfelbinger: Die Lage ist dramatisch. Vielen Betrieben ist von einem Tag auf den anderen der Umsatz weggebrochen. Viele Selbstständige und kleine und mittlere Betriebe vor allem aus den Branchen Hotellerie, Gastronomie, Reise, Events und Handel sehen sich in ihrer Existenz bedroht. Viele Unternehmen und mit ihnen tausende von Arbeitsplätzen sind in Gefahr.

Lässt sich der volkswirtschaftliche Schaden für die heimische Wirtschaft im IHK-Bezirk beziffern? Wie hoch ist er pro Tag?

Dietzfelbinger: Allein der Handel beziffert seinen Verlust am Niederrhein auf geschätzte zehn Millionen Euro - pro Tag. Darüber hinaus gibt es noch keine verlässlichen Angaben. Aber der aktuelle Schaden ist schon jetzt riesig. Denn zum momentanen Nachfrage-Loch drohen uns mittelfristig Probleme bei den Zulieferketten, zum Beispiel in der Industrie, wenn Vorprodukte aus Asien ausbleiben.

Dr. Stefan Dietzfelbinger will schnelle Hilfen für Solo-Selbstständige.
Dr. Stefan Dietzfelbinger will schnelle Hilfen für Solo-Selbstständige. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Wie lange können die Unternehmen mit dem derzeitigen Zustand leben, ohne in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten?

Dietzfelbinger: Die Krise trifft alle Unternehmen, allerdings in sehr unterschiedlicher Form. Einige dürften aktuell sogar profitieren, wie zum Beispiel Apotheken, Drogerien oder Pharmaunternehmen. Besonders hart trifft es aktuell Dienstleister, die von Messen, Veranstaltungen, Catering oder Reisen leben. Sie können ihr Geschäft nicht virtuell abwickeln, ihnen brechen zu 100 Prozent die Einnahmen weg. In Teilen der Industrie und im Lebensmittelbereich läuft die Produktion weiter. Auch die Logistikbranche arbeitet unter einigen Sicherheitsvorkehrungen weiter, um uns alle zu versorgen.

Wie kann die Kammer betroffene Unternehmen unterstützen?

Dietzfelbinger: Bei unseren Betriebsberatern laufen die Telefone heiß: Darf ich mein Geschäft noch offen halten? Wie kann ich Kurzarbeiter-Geld beantragen? Wie komme ich kurzfristig an Liquiditätshilfen? Das sind die typischen Fragen aus den vielen Gesprächen. Wir haben die wichtigsten Fragen und Antworten auf unserer Internetseite zusammengestellt. Dort bieten wir auch laufend aktuelle Infos an.

Welche Regelungen müssen Land und Bund treffen, um die hiesige Wirtschaft vor größeren Schäden zu bewahren?

Dietzfelbinger: Berlin und Düsseldorf haben sehr rasch und richtig gehandelt. Die angebotenen Maßnahmen passen: Kurzarbeiter-Geld, Überbrückungskredite, Steuer-Stundungen und verlängerte Antragsfristen. Wichtig ist jetzt, dass diese Hilfen sehr schnell und unbürokratisch bei unseren Firmen ankommen. Und noch etwas: Vor allem für die Solo-Selbstständigen müssen wir über echte Zuschüsse sprechen, da hilft ein Kredit nicht weiter, denn wie soll er jemals zurückgezahlt werden? Nochmal: Es muss jetzt sehr schnell gehen. Wir IHKs bieten Bund und Ländern an, bei den Anträgen mit zu helfen.

Dr. Stefan Dietzfelbinger will auf keinen Fall einen eingeschränkten Warenverkehr zu den Niederlanden.
Dr. Stefan Dietzfelbinger will auf keinen Fall einen eingeschränkten Warenverkehr zu den Niederlanden. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

An vielen Grenzen zu Nachbarländern wurden wieder Grenzkontrollen eingeführt. Welche Branchen im Kammerbezirk sind davon besonders betroffen?

Dietzfelbinger: Betroffen ist der gesamte Straßengüterverkehr aus unserer Region nach ganz Europa und umgekehrt. Der Warenverkehr sollte zwar von den Grenzkontrollen ausgenommen sein. Das handhaben allerdings die jeweiligen Länder sehr unterschiedlich: Mal werden Lkw durchgewunken, und an einer anderen Grenze werden die Ladungspapiere kontrolliert. Hier muss sich die EU schnellstens auf ein einheitliches Vorgehen einigen, sonst kommt es zu Verzögerungen im Warenverkehr. Schnellere Spuren für Warentransporte und Berufspendler an allen Grenzen wären eine Möglichkeit, um die Wirtschaft nicht noch zusätzlich zu beeinträchtigen.

Die Grenze zu den Niederlanden ist (noch) offen. Was würden Kontrollen an den deutsch-holländischen Grenzen für die Unternehmen am Niederrhein bedeuten?

Dietzfelbinger: Die Niederlande sind einer unserer wichtigsten Handelspartner. Würde der Warenverkehr auch eingeschränkt, könnte es zu Versorgungsengpässen kommen. Gastronomie, Freizeitparks (Wunderland Kalkar, Irrland), Grenzland-Draisine, Airport Weeze, Zoos und Tiergärten sind besonders betroffen, da die Niederländer einen Großteil der Kunden ausmachen. In direkter Grenznähe würde auch der Handel spürbare Einbußen verzeichnen. Discounter und Tankstellen werden überdurchschnittlich stark von Niederländern aufgesucht.

Welche Konsequenzen haben die Schulschließungen auf Azubis und ihre künftigen Abschlussprüfungen?

Dietzfelbinger: Es ist für unsere vielen Prüflinge natürlich enttäuschend, dass – übrigens bundesweit – kurzfristig bis zum 24. April alle Prüfungen abgesagt werden mussten, denn sie haben sich intensiv darauf vorbereitet. Aber auch hier gilt: Gesundheit geht vor. Das sehen auch die meisten Prüflinge so und zeigen großes Verständnis. Wann die Prüfungen nachgeholt werden können, ist derzeit noch offen. Wir beobachten die Situation genau und geben neue Termine sobald wie möglich bekannt. Auch hier finden Azubis und Betriebe alle aktuellen Informationen dazu auf unserer IHK-Website.

Stichwort Home Office: Welche besonderen Maßnahmen wurden für die Mitarbeiter der IHK selbst getroffen?

Dietzfelbinger: Wichtig ist, dass wir unseren Betrieben gerade jetzt zur Seite stehen. Deswegen sind wir alle auch weiterhin sehr gut telefonisch und per E-Mail zu erreichen und können sehr schnell helfen. Der überwiegende Teil unserer Kollegen ist allerdings seit gestern verpflichtend im Home Office. Sie haben von dort aus Zugriff auf unsere Server, und die Telefone sind umgestellt. Wichtige Außenwirtschaftsdokumente erhalten unsere Unternehmen nach wie vor an unseren Standorten in Duisburg, Wesel und Kleve montags bis freitags von 8 bis 13 Uhr. Wir alle hoffen, dass wir mit unseren Betrieben bald wieder ein Stück zur Normalität zurückkehren können.