Amsterdam/Kleve. . Eva Weyl ist eine der letzten Zeitzeuginnen des Holocaust. Mit viel Energie klärt die 83-Jährige Schulklassen über die Gräueltaten der Nazis auf.

„Deutsche kauft nicht bei Juden“, skandierten die Nationalsozialisten lauthals in den Klever Straßen. Sie warfen Scheiben ein, marschierten in Stiefeln und mit Fackeln durch die Innenstadt. Aus den Fenstern wehten die roten Hakenkreuzfahnen. Eva Weyls Vater hat schnell erkannt, dass er in diesem Land, in dieser Stadt, in der er 1907 geboren wurde, nicht länger bleiben kann. Er floh 1933 mit seiner künftigen Frau in die Niederlande, nach Arnheim, und wähnte sich erst einmal in Sicherheit. „Er fuhr noch eine ganze Weile über die Grenze, um seine Eltern zu besuchen“, erzählt Eva Weyl. Aber irgendwann war auch dies zu gefährlich. Die Familie Weyl führte in der Klever Innenstadt seit 1912 ein großes Kaufhaus – das erste große Kaufhaus in Kleve überhaupt. Anselm Weyl, der Ur-Großvater von Eva Weyl, hatte das Geschäft gegründet.

Der Holocaust prägt ihr Leben

Eva Weyl wurde in Arnheim geboren, 1935. Ein Jahr nachdem ihre Eltern geheiratet hatten. Ein Leben lang wird die Zeit des Holocaust sie prägen, auch wenn sie als Kind „nicht gelitten“ habe, wie sie sagt: „Ich habe nichts gemerkt. Kinder wurden damals unwissend gehalten, die Eltern haben uns beschützt. Ich wurde absolut von allem ferngehalten“, erzählt sie im Laufe des Gesprächs in ihrer Wohnung in Amsterdam. Erst später, viele Jahre nach dem Krieg, habe ihr Vater versucht, mit ihr über das Geschehene zu reden. Eva Weyl hat gut zugehört: „Ich habe an seinen Lippen gehangen“, sagt sie. Die 83-Jährige ist heute eine der letzten Überlebenden des Holocaust und klärt mit einem bewundernswerten Willen und scheinbar unendlicher Kraft junge Menschen über die Vernichtung der Juden und die sich daraus ergebenden Lehren auf: „Man muss nachdenken, bevor man seine Stimme abgibt. Und man muss wissen, welche Gefahren drohen.“ Ihr Vater habe ihr gesagt: „Kind, wir müssen immer darüber reden.“

Die heutigen Gefahren erkennen

Eva Weyl sagt, dass sie in ihrem Leben viel Glück gehabt habe. Mit sechs Jahren kam sie in das Konzentrationslager Westerbork in der niederländischen Provinz Drenthe. Hier wurden alle Juden des Landes von den Nazis interniert, ehe man sie in Zügen in die Todeslager Osteuropas deportierte. Überraschenderweise sagt Eva Weyl heute, dass sie „gar keine schlechte Zeit im Lager“ gehabt habe. Es habe Kinder gegeben, denen es viel schlimmer ergangen sei als ihr. Westerbork-Lagerleiter Albert Konrad Gemmeker hatte sich eine perfide Strategie ausgedacht: Er behandelte die Lagerinsassen scheinbar mit Respekt, bot ein Kulturprogramm und sorgte so für Ruhe. „Wir hatten nie Hunger leiden müssen, Gemmeker hat für Arbeit und Ablenkung gesorgt. Es war ein großer Betrug in diesem Lager“, erzählt Weyl.

Mit Glück das Lager überlebt

Peu à peu ließen sich die Internierten in Zügen in den Tod schicken. Eva Weyl ist dem Transport drei Mal entkommen: Beim ersten Mal hat ein Freund ihres Vaters sie von einer Liste gestrichen, beim zweiten Mal wurde der Zug von alliierten Kampfjets beschossen, und kurz vor der dritten geplanten Deportation wurde das Lager befreit. 800 Menschen überlebten, 102.000 wurden umgebracht.

Bis zu ihrem 40. Lebensjahr hatte Eva Weyl nur wenig Interesse daran, sich mit ihrer Familiengeschichte und der Judenverfolgung auseinanderzusetzen. Als junge Frau waren andere Dinge wichtig. Mit 18 war sie kaum noch zu Hause. Sie hatte in Arnheim ihren Realschulabschluss gemacht und war dann für ein Jahr nach Amerika gegangen. Danach ging es für sie in die Schweiz, wo sie Hotelmanagement studierte. Später arbeitete sie dann im Geschäft ihrer Eltern in Arnheim mit, ehe sie mit ihrem Mann in die Schweiz ging und erst 1968 in die Niederlande zurück kam – nach Amsterdam.

Eva Weyl als Schülerin.
Eva Weyl als Schülerin. © Privatbesitz Eva Weyl

Sie war erfolgreiche Einkäuferin für ein großes Sportbekleidungsunternehmen und besuchte von den Niederlanden aus Sportmessen in Deutschland, Frankreich, Finnland, Italien und der Schweiz. „Man hatte in den ersten Jahren nach dem Krieg keine Zeit, um zu reflektieren. Als Eltern war man beschäftigt“, erzählt sie. Und: „Ich wollte auch nicht mehr wissen. Das kam erst später.“ Geschwiegen habe man über die Nazi-Zeit nie. Einmal im Jahr wurde der Befreiungstag, der 12. April 1945, gefeiert – mit Champagner, einem guten Essen und den übrig gebliebenen Freunden.

Eva Weyl war nie religiös. Den Gang in die Synagoge empfand sie schon als Kind immer als „Blödsinn“. Die Familie war voll assimiliert. Ihre Mutter sei eine „kultivierte deutsche Frau“ gewesen. Später hat Eva Weyl mit ihrem Vater und auch mit ihrem zweiten Mann viele Gedenkstätten und Konzentrationslager besucht und verstanden, was das heißt, als eine der wenigen Juden überlebt zu haben.

Schüler werden zu „Zweitzeugen“

In den 70er Jahren hat Eva Weyl angefangen, Bücher zu lesen und sich mit dem industriellen Judenmord auseinanderzusetzen. Mit ihrem Vater besuchte sie regelmäßig Kleve und nahm an Gedenkfeiern teil. Eine Rede im Freiherr vom Stein-Gymnasium im 1995 war für sie der Auslöser, intensivere Fragen an den Vater zu richten: Was ist genau passiert? Wie habt ihr das überstanden? „Da hat mein Interesse angefangen“, erzählt sie. Zwei Jahre später, im Mai 1997, verstarb ihr Vater.

Danach zog es Eva Weyl 1998 noch einmal nach Amerika. Mit ihrem zweiten Mann wohnte sie bis 2008 in Kalifornien, ehe auch dieser verstarb.

Eva Weyl kam zurück nach Amsterdam und jetzt begann ihr unermüdlicher Einsatz für die Aufklärung. Im Januar 2008 wurde sie von Mitarbeitern der Gedenkstätte „Kamp Westerbork“ angesprochen, um als Sprecherin Führungen zu geben. „Ich konnte schon immer gut sprechen“, erzählt sie. Bereits als Einkäuferin habe sie Modenschauen moderiert und gelernt, klare Botschaften zu übermitteln. Das kam ihr jetzt zugute.

Den Versuchungen der Populisten widerstehen

Es war dann Ex-Bürgermeister Theodor Brauer, der sie eingeladen habe, auch in Kleve zu reden, anlässlich der Reichspogromnacht. Und seitdem ist sie viel unterwegs: „Ich möchte in die Schulen“, sagt sie. Die Schüler sollen ihre „Zweitzeugen“ werden, ihre Lebensgeschichte hören, sich eine Meinung bilden und den Versuchungen der Populisten widerstehen.

Die Welt ist nicht einfach. Jeder ist für sein Tun selbst verantwortlich und keine deutsche Nachfolgegeneration trägt persönliche Schuld für den Holocaust. Eva Weyl hat dies tief verinnerlicht. Sie unterhält heute Kontakt zur Tochter und Enkelin des ehemaligen Lagerkommandanten Gemmeker. Die heute 53-Jährige Enkelin kommt aus Neukirchen-Vluyn und wird mit ihr eine Vortragsreihe gestalten.

„Die Schüler sind nicht verantwortlich für die deutsche Vergangenheit. Aber sie sind es für das, was sie daraus machen“, sagt Eva Weyl. Sie erkennt die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Geschichte an. Vor zwei Jahren hat sie sogar die deutsche Nationalität beantragt.