Kleve. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten niederländische Behörden größere Teile der deutschen Grenzregion annektieren. Kleve war eine begehrte Stadt.

Jan van Banning hätte gerne den Klever Reichswald unter seiner Verwaltung gehabt. Und auch die Margarine-Union in Kleve waren für den Bürgermeister von Gennep ein begehrtes Ziel. Am 4. Oktober 1945 schrieb er einen Brief an den niederländischen Ministerpräsidenten, um ihn zur Annexion deutscher Grenzgebiete zu animieren: Denn in der Region Kleve gäbe es eine Papierfabrik, eine Textilfabrik und eine Margarinefabrik, die für Gennep sehr bedeutsam seien. „Für den Verkehr wäre es von größter Wichtigkeit, wenn die Straßen zwischen Emmerich und Gennep direkt über niederländisches Staatsgebiet verlaufen würden“, schrieb van Banning. Außerdem liefere der Reichswald wichtige Holzreserven.

Der Genneper Bürgermeister wollte Kleve annektieren – und mit dieser Einstellung war er nicht allein. Vergleichbare Schreiben gibt es auch von den Bürgermeistern Van Grotenhuis (Groesbeek) und Prosper Sassen (Ubbergen) oder der Stiftung Opbouw Nijmegen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zahlreiche niederländische Stimmen, die für die erlittenen Kriegsschäden eine Kompensation verlangten – am liebsten durch Grund und Boden.

Außenminister Eelco van Kleffens rief bereits im Winter 1946 das „Nederlandsch Comité voor Gebiedsuitbreiding“ ins Leben, das als agitatorischer Pol die niederländischen Forderungen bündelte. Lange Zeit wurden die Deutschen aber darüber im Unklaren gelassen, um welche Gebiete es eigentlich gehen sollte.

Niederländische Bevölkerung war nicht überzeugt

Am 30. September 1946 beschloss das Haager Kabinett seine Annexionspläne, die in einem Memorandum aufgelistet wurden. Dazu zählten auch Teile des Kreises Kleve. Doch diese Forderungen behagte schon damals vielen Niederländern nicht: Im Winter 1945/46 sprachen sich nur 44,5 Prozent der Niederländer positiv für eine Bereicherung um deutsches Territorium aus. Und selbst der forsche Bürgermeister von Gennep musste eingestehen, dass seine Bevölkerung dem Vorhaben „gleichgültig“ (onverschillig) gegenüberstehe.

Im Hotel Kock (Hof van Holland) tagte im Juni 1948 das Kabinett des Landes Nordrhein-Westfalen.
Im Hotel Kock (Hof van Holland) tagte im Juni 1948 das Kabinett des Landes Nordrhein-Westfalen.

Die Grenzregion Kleve spielte für die Niederlande eine wichtige Rolle. Immer wieder wurde in Verwaltungsschreiben betont, dass die Menschen im Kreis Kleve halbe Niederländer seien und man sich hervorragend auf Platt verständigen könne, ethnographisch und sprachwissenschaftlich sei man eng verwandt. „Diese Faktoren würden den Assimilationsprozess fördern“, so die Stiftung „Opbouw Nijmegen“. Die meisten Stimmen für eine Annexion stammten aus dem benachbarten Gelderland.

In Kleve und Umgebung wurden diese Ideen mit größter Ablehnung und Skepsis beobachtet. Am 27. November 1946 berichtete das Rhein-Echo von einer Grenzlandkundgebung in Kleve, zu der mehrere Tausend Menschen kamen. Der Oberbürgermeister von Köln, Dr. Pünder, sprach zur Bevölkerung und appellierte an die Niederländer, die Grenzpfähle stehen zu lassen. Man werde sich keineswegs einer Wiedergutmachung verschließen, aber Grenzberichtigungen seien nicht das richtige Mittel der Wahl, so Pünder.

Protest vom Lande zeigte Wirkung

Im Februar 1947 war klar, dass die Städte Emmerich und Kleve nicht von den Niederländern annektiert werden, dennoch sollten „Grenzkorrekturen“ vorgenommen werden. Am 9. August 1947 fasste die Stadtverwaltung Kleve ihre Bedenken in einer gut sechs seitigen Stellungnahme zusammen. So verliere die Stadt mit den vorgelegten Annexionswünschen ihr gesamtes Hinterland und der Klever Handel würde vernichtet: „Die Folgen der Landabtretung würden hinreichen, um eine gesunde Stadt zu ruinieren“, so die Verwaltung.

Auch Oberkreisdirektor Sallermann schickte im Januar 1947 eine vierzehnseitige Abhandlung zu den Gebietsansprüchen nach Düsseldorf und listete darin die Gebietskulisse auf: Betroffen waren Teile von Kleve (8866 Hektar), Asperden (7533 Hektar), Kranenburg (5789 Hektar), Griethausen (4001 Hektar) und Keeken-Niel (3715 Hektar). „Diese Gebiete werden von 40.315 Menschen bewohnt“, fasste Sallermann zusammen.

Der Protest vom Lande zeigte Wirkung. Die Landesregierung war höchst sensibilisiert und organisierte als Zeichen der Solidarität am 7. Juni 1948 eine Kabinettssitzung im Hotel Kock in Kleve, an der unter anderem Ministerpräsident Karl Arnold und Landwirtschaftsminister Heinrich Lübke teilnahmen. Es sollte „Flagge gezeigt“ und deutlich gemacht werden, dass die Grenzbevölkerung „nicht allein gelassen wird“, schreibt Michael Alfred Kanther in den „Kabinettsprotokollen der Landesregierung“.

Reichs- und Nierswalde entstanden

Während der Sitzung wurde der sogenannte Grenzlandfonds beschlossen, der eine Koordinierung von Hilfsmaßnahmen für die Grenzregion organisieren sollte. Über den Grenzlandfonds wurden unter anderem das Antonius-Hospital und das Klever Hallenbad finanziert, berichtet der ehemalige Klever Stadtdirektor Bernhard Baak.

Der Kartenausschnitt zeigt die Annexionswünsche der Niederländer.
Der Kartenausschnitt zeigt die Annexionswünsche der Niederländer.

Auf der Kabinettssitzung in Kleve wurden bereits geeignete Gegenmaßnahmen zu den niederländischen Annexionswünschen diskutiert und eine Besiedelung des Reichswaldes ins Auge gefasst – es war die Geburtsstunde von Reichs- und Nierswalde. Heinrich Lübke, der spätere Bundespräsident, arbeitete einen Plan für Kleve aus, der am 19. Juli 1948 beschlossen wurde.

Zwei Monate später, am 18. September 1948, stellte Lübke seine Pläne im Hotel Kock Vertretern der Land- und Forstwirtschaft vor. Gebiete in Asperden und Materborn sollten mit Siedlern aus dem Kleverland und kriegsgeschädigten Bauern sowie Ostvertriebenen besiedelt werden. Daraufhin bewarben sich im Herbst 1948 gut 2000 Personen. Am 22. März 1949 konnten nach einem Auswahlverfahren 149 Siedler ihre Bauernstellen erwerben und bereits im Dezember lebten die ersten Bauern in Reichswalde.

Heinrich Lübke spielte eine entscheidende Rolle

„Heinrich Lübke war ausschlaggebend an dem Aufbau der Reichswaldsiedlungen beteiligt“, urteilt Sozialgeograf Jan Smit. Durch seinen Einsatz sei die Reichswaldbesiedlung auch mit einer Nationalpolitik verbunden. Die Reichswaldsiedlung ist als „Abwehrmaßnahme gegen die Annektierungsbestrebungen der Niederlande“ zu bewerten, so Smit.

Die Annexionspläne wurden schnell von den alliierten Besatzungsmächten USA und Großbritannien vom Tisch gefegt. Bereits im Herbst 1946 machte der amerikanische Außenminister James Byrnes deutlich, dass man einer Annexion deutschen Territoriums nicht zustimmen werde. Aus Annexionen wurden später „Grenzkorrekturen“, die am 22. März 1949 beschlossen wurden. Unter anderem wurden die Ortschaften Elten und Wyler dem niederländischen Staat übertragen.