Kleve. . Um zu überleben, schickten die Familien in einem heute unvorstellbaren Ausmaß ihre Kinder zur Arbeit, auch in die Fabriken, die gerade aufkamen.

Das Schreiben des Klever Bürgermeisters war ein Hilferuf, und dieser verfehlte seine Wirkung nicht. Als Pläne bekannt wurden, Emmerich zum Standort eines neuen Oberlandesgerichtes zu machen, schrieb Friedrich F. Schniewind am 23. Juli 1816 an die preußische Regierung, dass dieses Gericht nach Kleve gehöre. Einer der genannten Gründe ist eine vermutlich etwas dramatisch eingefärbte, gleichwohl aber schonungslose Bestandsaufnahme, wie sich Kleve zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Welt präsentierte:

Eine durchaus verarmte Landstadt

„Dass die ehemalige Hauptstadt Kleve, der an Fabriken oder sonstigen vorzüglichen Erwerbsquellen gänzlich fehlende, sich bis zur Besetzung der Franzosen größtenteils von den Gehältern der Beamten jener hohen Verwaltungen sich aufrecht erhalten habe müssen, seitdem aber, durch die 20-jährigen, allmählich drückenden und unerträglicheren Opfer sich nunmehr in einer höchst traurigen Lage befinde und zu einer durchaus verarmten Landstadt herunter gesunken sei“ – diese Umstände machten es erforderlich, Klever wieder mit wichtigen Behörden auszustatten.

Die Stadt hatte Glück: Kleve wurde neuer Standort der Bezirksregierung und auch des Oberlandesgerichts. Optimismus kehrte zurück. Doch nur für wenige Jahre. Erst wurden drei Jahre später die Richter nach Hamm versetzt, und 1821 die Klever Bezirksregierung mit der von Düsseldorf zusammengelegt. „Vorhang zu. Der Traum von einer schöneren Zukunft war ausgeträumt“, berichtet der ehemalige Stadtarchivar Friedrich Gorissen in seiner Geschichte der Stadt und belegt das ganze Drama mit Zahlen: Der Stadt mit ihren gerade einmal 7000 Einwohnern fehlte fortan jährlich der Lohn für 500 000 Arbeitstage.

Große Gebäude verödet

Ein Zeitgenosse – Friedrich Char – schrieb: „Jetzt sehen wir wieder große Gebäude verödet und ganze Reihen von Häusern mit Verkauf- und Vermietungszetteln behangen, die kein Mensch mehr berücksichtigt; Heuser- und schlugen Miete sind zur Hälfte gesunken, – und geschickter Handwerker bieten vergebens um Arbeit.“

Friedrich Gorissen zufolge verdienten selbst diejenigen, die das Glück hatten, täglich arbeiten zu können, gerade so viel, dass es zum Überleben reichte. Schön waren die Jahre nicht, und dies, obwohl in diese Zeit auch das kulturelle Aufblühen der Stadt fiel – neuer Tiergarten, Klever Malerschule.

Suppenküche für 2360 Personen

Romantik ist das eine, die Realität das andere. Und die sah 1846 so aus, dass 584 Haushalte mit insgesamt 2360 Personen auf die Versorgung durch die städtische Suppenanstalt angewiesen waren. Die Zahl war so hoch, dass zwei Gruppen gebildet wurden und diese im täglichen Wechsel mit Erbsen- oder Graupensuppe versorgt wurden.

Um zu überleben, schickten die Familien in einem heute unvorstellbaren Ausmaß ihre Kinder zur Arbeit, auch in die Fabriken, die gerade aufkamen. Der preußische Staat hatte Regelungen geschaffen, um Auswüchse zu verhindern. Ein Prüfbericht der Klever Stadtverwaltung vom 13. Januar 1842 ergibt aus heutiger Sicht dennoch ein erschreckendes Bild.

Arbeitszeit 13 Stunden pro Tag

Demnach beschäftigte die Baumwoll-Spinnerei des Franz Dinnendahl drei Kinder unter 16 Jahren, die Tapetenfabrik de Bruyn-Ouboter zwei und Strohflechterei Delfontaine 13. Die Arbeitszeit in den ersten beiden Werken betrug im Sommer 13 Stunden pro Tag – von sechs Uhr morgens bis neunzehn Uhr. Der Bürgermeister bestätigte mit seiner Unterschrift („revidiert und richtig befunden“), dass bei diesen Beschäftigungsverhältnissen alles seine Ordnung habe.

Zehn Jahre später listet eine erneute Überprüfung die Tabaksfabriken von Wilhelm Mertens und von Julius Cosman auf, diesmal mit fünf namentlich genannten Kindern. Wieder lauf alles getreu der gesetzlichen Vorgaben ab: „Diejenigen der genannten jugendlichen Fabrik-Arbeiter, welcher schulpflichtig sind, besuchen regelmäßig die Schule und den Religion-Unterricht zu den bestimmten Stunden.“

Kinder vor Kontrollen versteckt

Einige Jahrzehnte später kam dann durch einen Zufall zu Tage, dass offenbar neben den vorschriftsmäßig aufgeführten jugendlichen Mitarbeitern in der Fabrik noch viel mehr Kinder beschäftigt waren. Sobald eine Kontrolle durchgeführt wurde, gab es ein Signal, und die Kinder mussten sich in einer der oberen Etagen des Fabrikgebäudes verstecken. Als ein neuer Polizeichef dann bei einem überraschenden Besuch die Kinder entdeckte, landete der vorige Unternehmer vor Gericht. Einsichtsvermögen war nicht vorhanden, sein Schwiegersohn verteidigte ihn mit den Worten, Mertens halte „die Kinder von der Straße und damit vor Schlechtigkeit zurück“.