Kleve. . Ein Klever Professor erforschte die Wohnorte der Herzogstochter im Süden Englands. Es liefert neue Erkenntnisse über das Leben Annas.
Es gibt historische Persönlichkeiten, von denen darf man annehmen, dass jede Facette ihres Lebens bereits beschrieben worden ist. Die Vita Martin Luthers etwa wird zurzeit von den Historikern rauf und runter gebetet. Auch zu Napoleon oder dem englischen König Heinrich VIII. sind viele Details bekannt und hinlänglich beschrieben. Desto erstaunlicher ist es, dass man bei vermeintlich allseitsbekannten Personen der Historie ganz neue Aspekte entdecken kann.
Das Leben der für Kleve so bedeutenden Herzogstochter Anna von Kleve, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts durch die Vermählung mit dem Tudor-König Heinrich dem VIII. kurzzeitig eine bedeutende Rolle für das europäische Machtverhältnis gespielt hat, ist mitnichten hinreichend erforscht. Gerade über ihr Leben in England (1540 bis 1557) lässt sich noch eine Menge berichten. Ein Professor aus Potsdam mit Klever Herkunft hat sich jüngst auf die Suche nach den Wohnorten Annas in Südengland begeben und neue Erkenntnisse zu Tage gefördert.
Im Zusammenhang mit der Klever Herzogstochter gibt es noch viele Fragen: Wo hat Anna gelebt, nachdem sie im Frühjahr 1540 kurz nach der Vermählung mit Heinrich VIII. wieder geschieden wurde? Gibt es noch Zeugnisse ihres Wirkens? Welche Stellung genoss Anna in England? Und war sie wirklich so naiv, wie man ihr nachsagte?
Der Klever Professor, der seit vielen Jahren in Potsdam lebt und lehrt und nicht namentlich in Erscheinung treten möchte, recherchierte in Südengland zur Historie der Familie Nōrget und fand beim Studium der englischen Quellen einige interessante Neuigkeiten über „Anne of Cleves“ heraus. So wurden erstmals Einrichtungsgegenstände aus ihren Wohnhäusern entdeckt.
Nachdem Anna im Spätsommer 1539 von ihrem Bruder Herzog Wilhelm V. (der Reiche) zwangsverheiratet worden war, machte sie sich mit einem großen Gefolge von insgesamt 263 Personen Ende des Jahres 1539 ins damals noch englische Calais auf, wo sie am 11. Dezember 1539 ankam. Gaute Nōrget, so das Pseudonym des Klever Professors, recherchierte die Namen der Personen, die Anna auf ihrer Reise nach England begleitet haben. „Man musste sich damals akkreditieren“, erzählt Nōrget, der sich die Namensliste in Quellen von 1539/40 angesehen hat. Unter den Teilnehmern waren u.a. bekannte Vertreter aus den Häuser Wissen und Grieth oder der Drost von Gennep.
Das englische Königshaus hat Anna gebührend in Dover empfangen: „Die Vertreter des englischen Hochadels waren nicht nur gut informiert, sondern auch sehr höflich und vermieden jede Peinlichkeit für die lebensunerfahrene Braut mit nur sehr geringen Englischkenntnissen“, berichtet Nōrget. Anna sei keineswegs ungebildet gewesen, denn schließlich durfte sie im Umfeld des Humanisten Konrad von Heresbach eine gute Ausbildung genossen haben. Sie wurde auf Latein begrüßt und sie habe auch in lateinischer Sprache geantwortet. Selbst Heinrich VIII., der beim ersten Anblick entsetzt gewesen sein soll, hat sich Nōrget zufolge zunächst benommen und sei nicht als Rüpel aufgetreten. Trotz seiner berüchtigten Urteile soll er sich im Umgang mit Frauen stets höflich verhalten haben.
Unzweifelhaft ist, dass Heinrich VIII. mit Anna nicht zufrieden war und die Ehe nach wenigen Monaten geschieden wurde. Aber Anna war nicht unglücklich – im Gegenteil. Heinrich hat ihr das Leben zugesichert, wenn sie England nicht verlässt und auch nie wieder heiratet. Daran hat sie sich zeitlebens gehalten. „Heinrich VIII. hat ihr 200 Immobilien vermacht. Anna war also eine Großgrundbesitzerin“, sagt Gaute Nōrget. Während ihres Aufenthaltes in England zwischen 1540 und 1557 habe sie jedoch überwiegend in drei oder vier Häusern gelebt: im Stammwohnsitz Bletchingley Place, in Penshurst Castle und Hever Castle, im Tudor Manor House Dartford südlich von London und dann im Old Manor House Chelsea, in das sie zuletzt krankheitsbedingt umziehen musste.
Nōrget berichtet, dass Anna von Kleve nach der Scheidung ihren Wohnsitz zuerst nach Bletchingley Place in Surrey verlegt hat, welches sich heute in Privatbesitz befindet. Diese Haus war für sie der bevorzugte Wohnort, allerdings musste sie diesen im Frühjahr 1547 verlassen, nachdem König Edward VI. das prächtige Anwesen an Sir Thomas Cawarden verschenkte. Anna wurde quasi rausgeworfen und musste sich eine neue Bleibe suchen: „Sie siedelte im Frühjahr 1547 ins weniger ‘heimelige’, wenn auch prächtige und zu Annas Besitz gehörende Hever Castle um“, berichtet Gaute Nōrget. Hier verbrachte sie bislang vor allem die Sommermonate mit den Kindern Heinrichs. Anna erzog unter anderem die später Queen Elisabeth I.
Anfang der 1550er Jahre wählte sie dann selbstständig einen neuen Wohnsitz und zog ins Tudor Manor House Dartford, südlich von London. Heinrich VIII. hatte dieses Haus prachtvoll ausgestattet und Anna uneingeschränkt überlassen. Sieben Jahre wohnte sie in diesem Haus, ehe sie im April 1557 erneut umziehen musste.
Anna war damals schwer krank. Gaute Nōrget geht davon aus, dass ihr die Jahre des Religionsterrors psychisch und physisch schwer zugesetzt haben. Im Old Manor House Chelsea wurde sie von ihrer Freundin, Prinzessin Mary, liebevoll gepflegt. Anna starb hier am 17. Juli 1557 im Alter von 41 Jahren. „Ihre vermeintliche Todesursache Krebs oder Siechtum scheint mir eine Erfindung zu sein“, so Gaute Nōrget.
Beigesetzt wurde Anna von Kleve – übrigens als einzige Frau von Heinrich VIII. – in der Westminster Abbey. Für Gaute Nōrget ist das ein wichtiges Zeichen, dass die Klever Herzogstochter ein hohes Ansehen in der englischen Bevölkerung genossen hat. „Anna von Kleve war immer sehr zurückhaltend, aber feinfühlig und humorvoll. Sie hat volksnah gelebt und war populär“, sagt Gaute Nōrget. Sie sei eine begeisterte Reiterin gewesen und alles andere als ein Mauerblümchen: „Sie hat sich nur nicht so wichtig genommen.“
Auf seiner Reise durch Südengland hat der Klever Professor die Wohnhäuser Annas besucht. Unter anderem stieß er auf 22 Eichenpaneele, die aus Annas Wohnstube stammen, und heute in der St. Leonard’s Church of Old Warden in Bedfordshire als Altardekor dienen. Die Paneele, die das Wappen Annas und des Herzogtums Kleve tragen, stammen ursprünglich aus den Häusern Bletchingley oder Dartford. Einen weiteren Hinweis, dass Anna von Kleve in Bletchingley gewohnt hat, liefert der verzierte Kamin im Hause, der gegen Jahresende 1540 von Hans Holbein entworfen worden ist. Auch hierin lässt sich Annas Wappen finden: „Wer hätte wohl in Wänden mit unzähligen Wappen einer Fremden Person wohnen wollen, wenn nicht Anna selbst? Anna hat Stil für Wohnkultur gehabt“, so Nōrget.
Heute existieren von Bletchingley nur noch das Gatehouse und eine Scheune mit saniertem Gebäude.
Die Historie der Anna von Kleve ist erstaunlicherweise nicht gut erforscht. „Dabei ist die Quellenlage gut“, sagt Nōrget. Viele wissenschaftliche Beiträge beruhen auf abgeschriebenen Textpassagen der Sekundärliteratur. Es sei daher sehr lohnenswert, sich systematisch mit Anna von Kleve zu beschäftigen, so Nōrget.