Goch. . Star-Klarinettist Giora Feidman (80) und Gershwin-String-Quartet spielten. Was ist schon der Unterschied zwischen Berliner Philharmonie und Gocher Kastell?
Vor über zwanzig Jahren pilgerte ein kleiner Trupp junger Klever nach Düsseldorf, um Giora Feidman zu hören. Der war bekannt geworden durch seine Mitwirkung in Filmen wie „Schindlers Liste“ oder „Jenseits der Stille“, und seine Art, genreübergreifend Musik zu machen, faszinierte ungemein.
Frieden schien vor 20 Jahren ein banaler Wunsch
Um ehrlich zu sein: Bei der Rückfahrt tastete man sich vorsichtig an die Meinung der anderen heran, die erstaunlicherweise der eigenen ähnelte. Die Musik: schön, aber beliebig. Am schlimmsten aber, wie der kleine alte Mann ans Mikrofon ging und „Frieden, Frieden auf der ganzen Welt“ sagte. Peinlich erschien das, banal, unangemessen. Von der Pilgerfahrt kehrte man als Ungläubiger zurück.
Eine Generation später rückt manches näher
Nun, eine Generation später, rückt manches näher, manches ferner. Ferner: der Frieden. Die grenzenlose Freiheit, damals das Heilsversprechen der Zukunft, macht in vielen Staaten der Welt dem Wunsch nach autoritärer Gängelung Platz. Näher: Europa ist vom Nahen Osten nur noch eine Schlauchbootfahrt entfernt. Und: Giora Feidman. Damals nur in Großstädten zu hören, gastierte er jetzt in Goch. Warum in so einer kleinen Stadt? „Was ist der Unterschied zwischen der Berliner Philharmonie und dem Gocher Kastell?“, fragt Feidman zurück. „Dort sind Menschen, hier sind Menschen.“
80Jähriger mit flinken Fingern, flinkem Geist
Der 80-jährige ist immer noch ein kleiner alter Mann, aber seine Finger sind flink geblieben, sein Geist ist es auch.
Er beginnt das Konzert, indem er aus dem Zuschauerraum langsam zur Bühne geht. Ausgerechnet „Yesterday“ von den Beatles spielt er – was heißt: spielen. Er haucht es, schluchzt es, bricht es in schillernde Erinnerungsstücke. Gemeinsam mit dem wunderbaren Gershwin-String- Quartet verwandelt er das voll besetzte Kastell in einen Andachtsraum. Jetzt, nach so viel Zeit, erscheint seine Botschaft zwar weiterhin einfach und banal. Aber plötzlich wirkt sie angemessen, ja sogar nötig wie nie: „Musik ist die mächtigste Kraft der Menschheit.“
Fantasien, in die man abtauchen kann
Zusammen leben, zusammen singen, mit Klängen begeistern und hineinhören ins eigene Ich. Das ist sein Programm. Die Stücke, die erklingen, sind nur Variationen dieses tiefen Glaubens an die Menschen. Es sind Fantasien, in die man abtauchen kann, egal ob sie aus klassischer Tradition, jüdischer Folklore oder dem Jazz kommen – oder aus allem zugleich. Und das auf einem musikalischen Niveau, das seinesgleichen sucht.
Nationalhymnen von Deutschland, Israel und Palästina
Man muss sich auch nicht wundern, dass Feidman die Zugabe vor der Pause spielt – schließlich stehe in keinem der heiligen Bücher, dass dies verboten sei. Und was ist die Zugabe? Eine Mischung der Nationalhymnen von Deutschland, Israel und Palästina.
Zuschauer singen und tragen den Geist weiter
Wo man mit Worten nicht mehr weiter weiß, muss man Musik machen. Es geht nur so. Ja, Feidman lässt sogar die Zuhörer zuweilen mitsingen. Anrührend ist das. Ganz schlicht. Hochemotional. Während sie noch singen, verlassen die Musiker die Bühne. Da ist niemand mehr, jetzt geht es darum, diesen Geist so lange wie möglich weiterzutragen.
Zeit ist vergangen, die Arroganz der Jugend verflogen. Vielleicht sollte man die Pilgerfahrt wieder aufnehmen.