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Unser Leben verläuft in Raum und Zeit. Walter hat beides davon. Reichlich sogar. Trotzdem bleibt der schätzungsweise Mittdreißiger ein bescheidener Mann: „Es gibt auch andere Jobs die langweilig sind“, sagt Walter. Wir könnten ihn nun ebenso Waldemar oder Stanislaw nennen. „Suchen Sie sich einen netten Namen für mich aus“, sagt er achselzuckend, die Hände tief in den ausgebeulten Taschen versenkt, „aber schreiben Sie bitte nicht, wie ich wirklich heiße“.
Wegen Bauarbeiten wird seit fast eineinhalb Jahren der Übergang am Kupferdreher S-Bahnhof per Hand gesichert. Walters durchaus sicherheitsrelevante Arbeit unterliegt zwar nicht der höchsten Geheimstufe in Sachen Bahnverkehr, „aber trotzdem“. Für seine Tätigkeit scheinen ohnehin eher Zahlen wichtiger zu sein. Als sein Diensthandy unter der grellen Sicherheitsweste unser Gespräch laut klingend unterbricht, meldet sich Walter mit einem „Hallo, 28 hier“. Dabei macht er ein Gesicht, das Sätze spricht wie: „Wer denn sonst?, du Möhre.“ Seine vom Wind ausgetrockneten Lippen verlässt aber nur dieses „28“. Kurz darauf ist ein „Geht klar“ zu hören.
Acht Stunden lang bei Wind und Wetter
Walter macht die Schranke, das ist seine Arbeit. Und zwar am S-Bahnhof in Kupferdreh, der seit mittlerweile eineinhalb Jahren eine Baustelle ist. Seitdem wird der Weg über die Schienen, die, so die Pläne der Bahn, Mitte 2012 einige Meter höher auf einer Betonbrücke verlaufen werden, per Hand gesichert. Acht Stunden lang; bei Wind und Wetter; an Sonn- und Feiertagen; in Früh- und in Spätschichten, jedoch immer mit einem zweiten Kollegen, der spiegelverkehrt auf der gegenüberliegenden Seite die gleichen Handbewegungen ausübt wie Walter, aber kein sonderlich gesprächiger Zeitgenosse zu sein scheint.
Seine einsilbigen Antworten leisten sich lediglich beim Nein den Luxus von ein bis zwei langgezogenen „ä“ zu viel. Ein schlichtes Nein wird dann zu einem Nääh. Ist hier schon mal ein Unfall passiert? Nääh! Halten sich die Leute immer an Ihre Anweisungen? Nääh! Was tun Sie dann? Nix! Macht Ihnen die Arbeit Spaß? Keine Antwort. Grüßen den Wortkargen Passanten, nickt er das pflichtbewusst ab.
Erinnerung an vorindustrielle Anfänge
Walter und seine Kollegen wirken in unserer Hochgeschwindigkeitszeit wie eine Erinnerung an die vorindustriellen Anfänge der Bahn. Sie sichern mit einem rot-weißen, ziehharmonikaähnlichem Band den Gleisübergang für Fußgänger und Radfahrer, wo sonst modernste Signaltechnik von unsichtbarer Hand Schranken hebt und senkt. Die mechanische Stange ist am S-Bahnhof auch noch zu sehen. Erstarrt und eingetütet steht sie nutzlos herum. Walter macht das jetzt. Und er macht das gern, sagt er.
Kuchen von einer Anwohnerin
Die Zeit bis zum nächsten Anruf, der ihn aus seinem roten Bauwagen an die Gleise treibt, schlägt er mit Radiohören tot. Manchmal hält er auch ein Schwätzchen mit Anwohnern, das schon mal länger dauere als die drei bis fünf Minuten „Gleisbausicherungsmaßnahme“, wie seine Tätigkeitsbeschreibung offiziell heißt. „Man lernt sich mit der Zeit halt kennen“, sagt Walter. Neulich erst, da habe eine Frau ihnen einen Kuchen vorbeigebracht.
"Wir haben ihn angezeigt"
In einer Zeit jedoch, in der es mittlerweile zum guten Ton gehört, nach Entschleunigung in unserem Leben zu rufen, behandeln manche Walter wie einen Zeitdieb. Seine Aufgabe ist es nun einmal, Menschen am Weitergehen zu hindern. Der gehetzte Zeitgenosse erkennt darin nicht einen Sicherheitsservice, sondern eine Provokation. Einer etwa sei trotz der Absperrung einfach weitergelaufen. Und als ein Kollege höflich warnte, bekam er üble Beschimpfungen als Echo zu hören. „Wir sind ihm hinterhergelaufen, haben uns sein Auto-Nummernschild notiert und ihn angezeigt“, erzählt Walter mit ein wenig Genugtuung in der Stimme. Das bisschen Zeit haben sie sich dafür auch noch genommen.