Essen. Oberbürgermeister Thomas Kufen sieht das Erstarken der „Alternative für Deutschland“ auch als Weckruf, Bürgerfrust ernster zu nehmen.
Seine eigene Partei konnte sich am Sonntag als stärkste politische Kraft behaupten, im Bund wie auch in Essen. Doch die Freude darüber hält sich bei Essens Oberbürgermeister in Grenzen – angesichts guter Ergebnisse der AfD, bundesweit wie auch im Norden der eigenen Stadt. Grund genug, mit Thomas Kufen zu sprechen. Wir erreichten ihn am Berliner Hauptbahnhof, nach der Sitzung des CDU-Bundesvorstands und vor seiner Rückreise nach Essen.
Herr Oberbürgermeister, Hand aufs Herz, wieviel gibt‘s heute für die CDU zu feiern?
Gute Gründe eigentlich, das ist ja ein ordentliches Ergebnis. Es gibt aber Anlass, sich nach wie vor zu sorgen: Etwa, wenn ich sehe, dass die AfD bundesweit auf Platz 2 kommt und das Bündnis Sahra Wagenknecht aus dem Stand über fünf Prozent. Das ist ein Ausdruck von Protest.
Der so weit geht, dass man lieber als die „etablierten“ eine Partei wählt, deren Spitzenkandidaten die SS verharmlosen oder der Bestechlichkeit beschuldigt werden. Verkommen die politischen Ansprüche?
Das zeigt ja nur: Es geht hier nicht ums Personal, nicht um das Programm der AfD. Und das heißt eben auch: Die Leute, die die AfD wählen, sind keine Nazis. Aber sie wählen Leute, die rechtsextrem sind. Die man teils als „Faschisten“ bezeichnen darf. Das muss jeder wissen, der diese Partei wählt.
Wie viel davon, glauben Sie, ist Denkzettel? Und wie viel wirkliche Überzeugung?
Ich glaube, da steckt viel mehr Protest als echte Überzeugung dahinter. Die Leute wählen die AfD nicht wegen ihrer Programmatik, schon gar nicht wegen ihrer Führungsfiguren. Sondern weil sie den Eindruck haben: Die „Ampel“ macht ihre Arbeit nicht. Und der Union trauen sie nach so vielen Jahren in der Regierung auch noch nicht über den Weg, das sie alles anders macht.
Essens SPD-Chef Frank Müller sagt: Die CDU macht es sich arg einfach, die Europawahl zu einer Wahl gegen die „Ampel“ umzuwidmen.
Ich finde es auch schade, dass nationale Themen in die Europawahl mit hineinspielen, aber das lief doch nie anders, auch in den Nachbarländern nicht. Und es war doch die SPD, die den Bundeskanzler flächendeckend plakatiert hat. Da müsste Herr Müller sich ertsmal in der eigenen Parteizentrale Gehör verschaffen. Ich erinnere an den „Spiegel“-Titel im Oktober vergangenen Jahres mit Bundeskanzler Scholz: „Wir werden in großem Stil abschieben müssen“. Passiert ist seither nichts. Oder an die Einführung der Bezahlkarte für Flüchtlinge. Die ist bisher nicht eingeführt, nicht in Essen, nicht in Nordrhein-Westfalen, nicht flächendeckend in Deutschland. Die Leute verfolgen doch, was am Ende aus Ankündigungen wird, und wenn nichts dabei rauskommt... Tja, dann wissen sie sich nicht anders zu helfen, als noch mehr Druck zu machen mit ihrem Stimmzettel, indem sie Leute wie die AfD wählen.
Lassen Sie uns ruhig nach Essen schauen, da lässt sich im Kleinen beobachten, was im Großen Sorge bereitet. Sie haben in der Vergangenheit immer betont, dass Sie „den Laden zusammenhalten“ müssen. Wenn man sich aber die Wahlergebnisse im Norden der Stadt anschaut, wo die AfD meist stärkste oder zweitstärkste Kraft wurde – fliegt da nicht gerade was auseinander?
Sagen wir so: Ich muss feststellen, dass Tumultlagen, die wir in den letzten Monaten gerade in jenen Stadtteilen hatten, in denen die AfD vorne liegt, offenbar nicht ohne Wirkung bleiben. Das wundert mich auch nicht. Mit Silvester-Böllern beschossene Helfer, Massenschlägereien, Messerangriffe, Ausschreitungen – das macht doch was mit den Bürgerinnen und Bürgern. Und der eine oder andere wählt dann aus Notwehr, aus Protest, als Hilferuf die AfD. Vor allem, wenn der Eindruck entsteht, das alles bleibt folgenlos.
Aber mit Folgen für die Stimmung im Stadtteil.
In der Tat. Ich spreche viele Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, und die sagen mir: Das geht in die falsche Richtung. Wir wollen das nicht. Wir wollen das nicht für unsere Kinder und nicht für unseren Stadtteil. Und wir wollen vor allem nicht, dass alle über einen Kamm geschoren und unter Generalverdacht gestellt werden.
Was kann in dieser Lage denn eine „Stadtregierung“ tun, was nicht auf einer anderen Ebene eingestielt wird?
Da sind wir bei einem wichtigen Punkt: Für viele Probleme über die wir in dieser Stadt sprechen liegt die Kompetenz nicht beim Oberbürgermeister. Die Polizei macht ihren Job und wir unterstützen wirklich nach Kräften, dafür erfahren wir viel Lob, auch vom neuen Polizeipräsidenten. Aber wenn es am Ende dann bei der Staatsanwaltschaft oder bei den Gerichten nicht weitergeht, kommen wir in Erklärungsnot gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Die erleben den Staat als zahnlos, als tatenlos, als achselzuckend. Ich bleibe bei meinem Konzept: Wir bieten Chancen, aber wir setzen auch Grenzen. Wir sind weltoffen und tolerant, aber wir sind nicht blöd. Wer hier leben will, muss sich an die Regeln halten.
Gut gebrüllt Löwe. Sie haben sich schon einmal weit aus dem Fenster gelehnt und nach Krawallen versprochen: Die lassen wir nicht einfach so davonkommen. Und dann passiert genau dies.
Das ist für mich genauso frustrierend wie für alle anderen: wenn da Zeugenaussagen zurückgerufen werden, wenn lange nicht klar ist, wer Täter und wer Opfer war, wenn Druck ausgeübt wird und zwischen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und Verurteilung zu viel Zeit vergeht. Wo alles im Sande verläuft, wird am Ende die Autorität des Staates, damit auch der Stadt und natürlich auch meine eigene untergraben. Da bin ich doch nicht naiv.
Was könnte denn die Stadt noch tun, was sie noch nicht getan hat? Oder sind Sie mit Ihrem Latein am Ende?
Nein, mehr geht immer. Wir bilden weitere Kräfte des Kommunalen Ordnungsdienstes aus. Wir haben die besonderen Verbindungsbeamten, die die Polizei auch am Wochenende oder in der Nacht unterstützen. Wir beschäftigen umfangreich Sicherheitskräfte unserer kommunalen Tochter RGE bis hin zu privaten Sicherheitsdiensten in der Innenstadt. Aber mittlerweile müssen wir schon Sicherheitspersonal am Grillplatz hinstellen und im Freibad Ausweise kontrollieren. Schlimm, dass es so weit ist. Aber ich möchte auch, dass die Bürgerinnen und Bürger sehen: Wir stehen nicht einfach achselzuckend daneben, sondern leisten unseren Beitrag für Sicherheit und Ordnung in dieser Stadt.
Mit Blick auf das Ergebnis der Europawahl: Bereuen Sie, die AfD im Zusammenhang mit deren Bundesparteitag so angegangen zu sein? Dass sie die Partei nicht willkommen heißen und das Treffen verhindern wollen?
Nein, ganz im Gegenteil, ich bekomme da relativ viel Zuspruch. Leute, die meine Haltung loben und den Mut, den Konflikt zu suchen. Ich bin in der letzten Zeit auch oft gefragt worden, ob ich mir Sorgen machen würde um meine eigene Sicherheit, ob ich Angst hätte.
Und? Haben Sie?
Nein, habe ich nicht. Egal ob ich mich mit Clans anlege oder mit der AfD: Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Ich muss meinen Job machen. Die AfD hat es selbst in der Hand gehabt, sie hätte die Selbstverpflichtung unterschreiben können, aber sie kann uns offenbar nicht zusichern, dass dort keine Straftaten passieren. Jetzt müssen die Gerichte entscheiden.