Essen. Einst haben Essener ihre Siedlung saniert und so gerettet, jetzt soll die „Litterode“ Neubauten weichen. Die Bewohner kämpfen weiter.
Er ist einer von denen in ihrer Siedlung, die damals mit angepackt haben: Herbert Wasser (75) hat an den Häusern der Litterode mit ausgeschachtet, hat Dächer gedeckt und die Fassaden gedämmt. Mit seinem Einsatz in den 1980ern hat er mit seinen Nachbarn sein Zuhause gerettet. Die städtische Unterkunft für Obdachlose in Leithe wurde nicht dem Erdboden gleich gemacht, sondern zu Mietraum. Ein Vorzeigeprojekt, das jetzt aber doch abgerissen werden soll. Die verbliebenen Bewohner kämpfen weiter um ihr Zuhause. Denn alle haben jetzt die Kündigung erhalten.
Rund 60 Menschen leben noch in der Litterode, 19 Parteien sind geblieben in ihrem Viertel, in dem viele Häuser bereits seit Jahren leer gezogen werden. Geblieben ist eine gewachsene wie enge Gemeinschaft. Sie sind nun auch aktiv auf Facebook, Instagram, Tiktok, sie sind auf Demos, beim Oberbürgermeister, auf Internetportalen und im Fernsehen, weil sie sie Angst um ihre Heimat haben. Um ihre Litterode.
Vor ihren Häusern stehen Stühle im Vorgarten, Bewohner plaudern, Hunde laufen über die Wiesen, Kinder toben auf den Spielgeräten in den Gärten, Nachbarn treffen sich auf der Straße, rufen sich aus dem Fenster zu, verabreden und helfen sich - seit Generationen. Diese Idylle endete für sie jäh: Im Vorjahr hatte ihr neuer Vermieter Allbau die Siedlung aus den 1930er Jahren von der Stadt übernommen und beschlossen, diese durch neuen Wohnraum zu ersetzen.
Neu gebaut werden sollen auf dem Grundstück 73 Einheiten, 60 öffentlich geförderte Wohnungen, 13 Einfamilienhäuser zum Verkauf. Die jetzige Siedlung sei völlig veraltet, nicht klimaneutral umzubauen, eine Sanierung völlig unwirtschaftlich, so argumentierte die städtische Wohnungsgesellschaft. „Ein Schock“, so nennt Joel Bolduan den Augenblick, als sie alle genau das bei einer Versammlung Anfang des Jahres erfuhren.
Viele Jahre seien sie zuvor immer wieder vertröstet worden, als sich mancher wie der zahnmedizinische Fachangestellte selbst um die leer stehenden Wohnungen bewarb. Während sie alle in vermeintlicher Sicherheit lebten, diskutierten Politiker im Rathaus schon 2022 über ihr Zuhause als Problemsiedlung, wissen sie nun. „Da fühlt man sich einfach hintergangen“, sagt Bewohner Joel Bolduan, der die Menschen hier seine große Familie nennt.
Joel Bolduan ist 23 Jahre alt und lebt genauso lange in der Litterode, wo Onkel und Tante sowie deren Söhne und Töchter leben, wo die Väter und Großväter die Häuser selbst sanierten und damit erhielten. Statt Unterkünften für wohnungslose Menschen gab es Mietverträge an der Litterode und Rudolfstraße. Das sind die Wurzeln ihrer Nachbarschaft, die damals in vielen Zeitungsartikeln gelobt wurde. „Nirgendwo ist es so, wie bei euch in der Straße“, das hört Yvonne Bolduan immer wieder von Freunden.
Die 48-Jährige ist Joels Mutter und lebt in dem Haus, in dem schon ihre Oma und Mutter wohnten – inzwischen mit der fünften Generation und in völliger Fassungslosigkeit. Es hat in der Zwischenzeit viele Gespräche, sogar eine Online-Petition sowie einen offenen Brief an Oberbürgermeister Thomas Kufen und ein Treffen mit ihm gegeben. „Wir sind voller Hoffnung hin und kamen völlig enttäuscht zurück“, sagt Dirk Bolduan. Der OB habe ihnen vom Allbau und dem Neubauprojekt vorgeschwärmt und seinen Besuch angekündigt.
„Wir warten immer noch auf ihn“, sagt Herves Becker (43), die sich wie viele andere in die Unterlagen und Vorgänge eingelesen hat, die es im Rathaus zu ihrer Siedlung gab, als die noch der Stadt gehörte. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern seit 1987 hier, wie auch ihre Eltern und ihre Schwester mit ihrer Familie. Sie alle haben erfahren, dass die Litterode offenbar seit Jahren als „Problemsiedlung“ galt. Das Warum treibt sie seitdem um. Denn alle Kriterien, die sie selbst gefunden hätten, träfen einfach nicht zu.
„Wir haben keinen Rattenbefall, kein Ungeziefer, keinen Schimmel und keine Feuchtigkeit“, sagt die 43-Jährige und öffnet weiterhin ihre Tür, falls sich jemand überzeugen möchte. Die Mitarbeiter des Allbaus, die seien aber nie in einer der Wohnungen gewesen und sprächen doch von Messergebnissen. „Herr Kufen hat uns endlich auf den offenen Brief geantwortet, ist jedoch nicht auf unsere konkreten Fragen eingegangen“, sagt sie erneut enttäuscht. Sie haben ihm also wieder geschrieben.
Ob die Politiker, die seinerzeit an der Abstimmung über eine Problemsiedlung beteiligt waren, die Litterode überhaupt kennen, das bezweifeln viele. Genau das wollte ihr Mann, Oliver Becker (43), von den Fraktionen wissen. Von freundlich bis abweisend habe er alle Reaktionen erlebt. Ähnlich erging es Dulat Abdulla (36), der Schwester von Hevres Becker, die sich vor allem um ihre Eltern sorgt.
Es habe einige Telefonate und Gespräche gegeben, Austausch mit einzelnen wie auch mit der Awo, den Falken und den Machern von „Essen diese“, die sich auf Instagram oftmals ironisch mit Essener Themen auseinandersetzen. Vor Ort war eine Gruppe SPD-Politiker (die Redaktion wurde von dieser Diskussion ausgeschlossen). „Sie haben sich ganz klar auf die Seite des Allbaus geschlagen“, fasst daher Hevres Becker ihren Eindruck zusammen, später habe es ein Vorsprechen bei den Linken gegeben, das positiver verlaufen sei. Geändert habe all das aber nichts, denn bei aller Solidarität, die sie sogar aus dem Ausland erfahren würden: „Diejenigen in Essen, die uns helfen könnten, tun das nicht.“
Stadt Essen hat einige Häuser vor Jahren nicht mehr neu vermietet
„Wir brauchen Wohnraum, bei uns steht dieser seit fast 15 Jahren leer“, sagt sie. Es fehlten Kitaplätze, während die Einrichtung, die sie selbst einst besucht hat, verfällt. „Wenn wir Wohnraum so dringend brauchen, warum baut der Allbau Einfamilienhäuser“, fragt Dirk Bolduan (55). Die Stadt habe zudem die unbewohnten Häuser jahrelang verkommen lassen, jetzt heiße es, ihre Siedlung sei nicht saniert. Dabei sei genau das damals erfolgt. „Wir haben das gemacht und sind es immer noch, die diese erhalten und pflegen“, sagen die Menschen in der Litterode verzweifelt. „Wir können doch nichts dafür, dass der Leerstand seit 15 Jahren verwahrlost.“
„Warum gibt es keine Kompromisse“, fragt Dirk Bolduan, auch sein Vater hat die Siedlung einst auf Vordermann gebracht. Als Pilot-Projekt galt es, als Bewohner und Bauarbeiter Hand in Hand arbeiteten. 1,9 Millionen Eurio investierte die Stadt. Wenn es jetzt um eine Heizung gehe, für die die Leitungen doch längst lägen, oder einen neuen Anstrich, „das machen wir sehr gern wieder selbst“, bietet er fast verzweifelt an. Sie hätten mitreden wollen, wären gern von Anfang an informiert und mitgenommen worden - offen und ehrlich. Stattdessen werde nun auf ihre Kosten Profit gemacht. „Alle schalten auf stur und sitzen das aus.“ Der Allbau mache ihnen Angebote, präsentiere gleich vier Parteien die gleiche Wohnung.
Dabei hat sie noch im Vorjahr ein Schreiben des Allbaus erreicht, als der den Bestand übernahm und Beständigkeit signalisierte („Neue Gesichter – sonst bleibt alles wie gehabt, wenn der Allbau nun die Bewirtschaftung Ihres Hauses übernimmt“). „Wir waren so happy“, sagt Hevres Becker.
„Das würden wir heute nicht mehr so machen, das war nicht gut“, sagt Allbau-Prokurist Samuel Serifi, nennt es ein Missverständnis. Das sei ein Standardschreiben, es soll etwa den Ansprechpartner bei notwendigen Reparaturen angeben. Ansonsten gelte, dass sie erst schauen und in dieser Phase nicht mit den Mietern reden. Für diese habe man schließlich sehr zügig die Versammlung angeboten. Die Stimmung hätten die Verantwortlichen nicht so arg empfunden, wie von manchem beschrieben. „Es war klar, dass es emotional wird, die Betroffenheit ist verständlich“, sagt er. Nicht so die Vorstellung, dass große Freiflächen zu Siedlungen gehören müssten, „moderner Wohnraum definiert sich heute anders“.
„Die Wohnungen haben wir nicht besichtigt, da deren Zustand für die Modernisierungsfähigkeit der Gebäude keine Relevanz hat“, sagt wiederum Allbausprecher Dieter Remy nun auch. Sie betrachteten vielmehr den Zustand der Gebäude und deren Entwicklungsfähigkeit, ausschließlich orientiert an den aktuellen gesetzlichen Regelungen zum Klimaschutz des Bundes und der Europäischen Union. Die Immobilien „Litterode“ gehörten zu den Gebäuden, „die in die schlechtesten Klassen der Energieeffizienz fallen. Eine Sanierung ist technisch und wirtschaftlich überhaupt nicht sinnvoll“, erklärt er. Das werde künftig auch andernorts gelten.
Man müsse ernsthaft über die Zukunft diskutieren und nicht auf die letzten 40 Jahre zurückzublicken. Remy betont, „dass in der Litterode für Essen dringend benötigter, zeitgemäßer und preiswerter Wohnraum in deutlich größerer Anzahl entstehen wird“. Um diesen könnten sich die Bewohner bei der Stadt bewerben, sie sei für die Vergabe von öffentlich geförderten Wohnungen verantwortlich. Denjenigen, die um ein zu hohes Einkommen für diese fürchten, rät er: „Lasst Euch beraten.“ Die Grenze sei nicht so niedrig.
Bewohner mussten Plakate von ihren Häusern in der Litterode wieder abnehmen
Ihre alte Siedlung Litterode sollen sie jedenfalls zunächst verlassen. Ein Mieter habe bereits einen neuen Mietvertrag unterschrieben. „Vier Mietverträge, die drei aktuelle Mieteinheiten betreffen, stehen in unseren Augen kurz vor dem Abschluss“, fasst Remy den aktuellen Stand zusammen. Mit allen anderen Parteien liefen noch Gespräche - abgesehen von vier Ausnahmen, bei denen es trotz telefonischer und schriftlicher Versuche noch keinen Kontakt gegeben habe.
Deutlich rigoroser handelte der Allbau kürzlich, als die Bewohner der Litterode Plakate an ihre Fassaden hängten. „Allbau reißt unsere Familie auseinander, 4 Kinder müssen ausziehen!“ stand etwa darauf. Statt Verständnis gab es ein Schreiben des Vermieters, der die „optische Veränderung des Mietobjekts“ und die „öffentliche Diffamierung“ nicht hinnehmen wollte. Wer die Plakate nicht binnen einer Frist abnehme, müsse sogar mit einer Kündigung rechnen, hieß es darin.
Inzwischen halten alle in der Litterode ihre Kündigung ohnehin in Händen. Nicht, weil sie Plakate auf- oder nicht rasch genug wieder abgehängt haben, sondern weil der Allbau seine Pläne strikt weiterverfolgt. „Wenn wir unsere Siedlung nicht retten können, warum sichert man uns nicht Wohnungen in den Neubauten zu, damit wir zusammenbleiben können“, fragen viele. Zumindest das könnten doch Allbau und Stadt für ihre einstige Vorzeigesiedlung und deren Bewohner tun. Auf Nachfrage der Redaktion zu dieser Frage, zum damaligen Beschluss über die Siedlung wie zum offenen Brief oder gibt es von Stadt und OB keine Antworten.
Hevres Becker soll nun mit ihrer Familie bis Oktober ausziehen. Ihre Eltern haben bis Januar Zeit. „Wir werden vertrieben“, beschreibt Dirk Bolduan das Gefühl. „Familien werden auseinandergerissen, wir verlieren unsere Freunde.“ Deswegen werden sie nicht aufgeben: „Wir werden kämpfen.“ Dazu zählen jetzt auch juristischer Beistand, eine weitere Demo. Gleichwohl in manches Haus längst Angst und Unsicherheit eingezogen sind und viele Tränen fließen. Sind doch einige in der Siedlung geboren. Das Umfeld schenkt ihnen auch Sicherheit und Geborgenheit, da selbst die Älteren oder Kranken sich darauf verlassen können, dass stets jemand für sie da ist.
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Herbert Wasser lebt mit seiner Frau seit 44 Jahren in der Litterode. Gleich nebenan im Haus wohnt der Sohn mit seiner Familie. Sein Vater hat als Maschinist im Kanalbau gearbeitet, sein handwerkliches Geschick hat geholfen, als er die Häuser der Siedlung saniert hat. Damit ist er der letzte noch Lebende aus der Truppe der Männer, die damals hier geschuftet haben. „Fragen sie lieber, was der Herbert nicht kann“, antwortet einer schmunzelnd, während dem 75-Jährigen ein Lächeln schwerfällt.
Heute pflegt Herbert Wasser seine Frau, die auf den Rollstuhl und ein Liegebett angewiesen ist - er wiederum auf die Unterstützung seines Sohnes. Dass dieser bald nicht mehr neben ihnen wohnen soll, macht ihm Angst. Herbert Wasser zeigt ein Angebot, der Allbaus hätte ihm eine Wohnung im dritten Geschoss angeboten. Selbst, wenn es einen funktionierenden Aufzug gibt, „ohne Dusche wird es nicht gehen“, sagt der 75-Jährige bekümmert mit Blick auf seine Frau. Während sie immerzu weint, fragt er verzweifelt: „Wo sollen wir denn hin?“
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