Essen. Bei der Einweihung eines Corona-„Denkorts“ kritisierte Peter Renzel übergriffiges staatliches Handeln. Das dürfe künftig nicht erneut passieren.
Erst vier Jahre ist es her, seit der Lockdown das Leben auch in Essen erstmals stillegte. Oder sollte man besser schreiben: schon vier Jahre? Als jüngst auf einer kleinen Grünfläche in Borbeck ein „Corona-Denkort“ eingeweiht wurde – es soll sich um den ersten in Deutschland handeln – wurde nicht nur an die Atmosphäre einer bleiernen Zeit erinnert, die merkwürdig fern wirkt. Es gab auch eine bemerkenswerte Einführungsrede von Sozial- und Gesundheitsdezernent Peter Renzel, der das staatliche Handeln in der Corona-Zeit überraschend deutlich als übergriffig kritisierte.
Der heute 61-jährige Stadtdirektor, zuständig für Soziales und Gesundheit, wurde qua Amt rasch zum Gesicht der Pandemie-Bekämpfung in Essen, entwickelte sich dabei anders als manche anderen aber nicht zum eifrigen Exekutor immer schärferer staatlicher „Maßnahmen“. Renzel setzte durch, was sein musste, doch es belastete ihn früh, wie schnell Freiheitseinschränkungen teils zum Selbstzweck zu werden schienen und die Verhältnismäßigkeit aus dem Blick geriet – in politischer Hinsicht gehörte dies zu den wohl verstörendsten Erfahrungen aus der Corona-Zeit, deren breite Aufarbeitung noch aussteht.
„Gemeinschaftstrage“, heißt das mehrdeutige Kunstwerk, das an die Pandemie erinnern, aber auch so etwas wie ein Treffpunkt werden soll. Den Anstoß zu dem Denkort gab die St. Josef-Frintrop-Stiftung, die aus der gleichnamigen Essener Pfarrgemeinde hervorgegangen ist und zusammen mit weiteren Sponsoren und Stiftungen die Mittel für das Objekt des Künstlers Peter Sandhaus aufbrachte.
Viele Ver- und Gebote bestimmten das Leben in der Corona-Pandemie
Arnd Brechmann zählte als Vorsitzender der Frintrop-Stiftung zu Beginn des Einweihungsaktes einige Stichworte auf, die heute teilweise wirken, als kämen sie aus einem anderen Leben: Es gab strikte Besuchsregelungen, und nicht selten blieben selbst sterbende Menschen einsam zurück; das Gros der Arbeit ruhte oder wurde ins Homeoffice verlegt; Baumärkte galten als systemrelevant, damit es zumindest zuhause etwas zu tun gab; Absperrbänder, Laufwege-Markierungen, Plexiglasscheiben und jede Menge Ver- und Gebote wie die Maskenpflicht bestimmten das Leben, und jeder lernte neue Worte und Bedeutungszusammenhänge wie Inzidenz und vulnerable Gruppen, Wellenbrecher und Hygienekonzept, Brücken-Lockdown, Kontaktverfolgung und Booster-Impfung.
Autokinos erlebten eine unerwartete Wiedergeburt, nicht nur, um Filme zu schauen, auch als „corona-konforme“ Versammlungsorte. Denn an Autoblech und Glas prallte das Virus ab, obwohl selbst da sich mancher offenbar unsicher war. „Als wir im Autokino eine Messe feiern wollten, musste ich bei der Stadt Essen mit meiner Unterschrift versichern, dass die Autos jederzeit mindestens 1,50 Meter auseinanderstehen würden“, erzählte Arnd Brechmann nicht ohne leise Belustigung. Das galt wohlgemerkt für geschlossene Autos. „Wir alle hier haben eine Form von Long Covid in uns“, so Brechmann angesichts solcher Erinnerungen.
Die Schließung von Schulen und Kitas als Zäsur
Konnte man überkleinliche Alltagszwänge, zu denen auch die Schließung von Parks gehörten, vielleicht noch mit Galgenhumor quittieren, hörte der Spaß endgültig auf, als Schulen und Kitas den Betrieb einstellten und ein Kollateralschaden in Kauf genommen wurde, den in dieser Form kein anderes Land riskierte. Er kenne junge Leute, „die noch heute komplett unversöhnt sind mit Corona“, sich um wichtige Erfahrungen betrogen fühlten, berichtete Brechmann.
„Die Schließung von Schulen und Kitas war ein Fehler“, sagte klipp und klar Stadtdirektor Peter Renzel, den die gängige und etwas gedankenfaule Erwiderungs-Floskel „Im-Nachhinein-ist-man-immer-schlauer“ kalt lassen kann. Denn Renzel war erwiesenermaßen von Anfang an gegen diese Schließungen und hatte früh geahnt, welche psychisch verheerenden Konsequenzen hier drohten, warb immer wieder auch für Lockerungen. Längst ist klar, dass das Risiko bei weitem nicht so groß war wie vielfach behauptet. Länder wie die Schweiz etwa, die nur wenige Wochen ihre Schulen schlossen, registrierten prozentual als Folge keineswegs mehr Krankheitsfälle als Deutschland.
Noch heute emotional angefasst wirkte Renzel, als er an die Isolierung alter Menschen in den Seniorenheimen erinnerte. Was gut gemeint war – unzweifelhaft war das Corona-Virus für Alte und schwer Vorerkrankte am gefährlichsten – geriet zu einer Lebensverkürzung anderer Art. Das Wegschließen, die erzwungene Trennung von Kindern, Enkeln und Freunden sei schlicht unmenschlich gewesen.
Als am Muttertag 2020 die Heime vorsichtig öffneten habe er ergreifende Szenen gesehen, etwa wie Mütter, Töchter und Söhne versuchten, sich trotz Glasscheiben zu berühren. Bei Renzel wuchs eine Überzeugung: „Der Staat darf in dieser Form nicht eingreifen in die zwischenmenschlichen Beziehungen.“ Das gelte auch für kleinliche Schließungen und Distanzregeln in Außenbereichen wie den Parks, die schon damals übertrieben und übergriffig wirkten. „Zu solchen Maßnahmen wird es nicht mehr kommen“, gab sich Renzel sicher.
Die unheilvolle Meinungsspirale und die Grenze zur Panikmache
Viele Fehler passierten, weil sich Experten, Medien und Politik in einer unheilvollen Meinungsspirale befanden und sich zu immer neuen Maßnahmen anfeuerten, wobei die Grenze zur Panikmache oft überschritten wurde. Unzureichende Vorbereitung mag bei all dem eine Rolle gespielt haben. „Die Pandemie-Planung der Stadt Essen war fünf Seiten stark“, erzählte Peter Renzel. So kalt erwischen lassen will sich der Stadtdirektor möglichst nie mehr. „Im Essener Gesundheitsamt haben wir einen Stab gegründet, der die Covid-Pandemie aufarbeitet und die nächste Lage dieser Art vorbereitet.“ Denn eines sei klar: „Die nächste Pandemie kommt; wir wissen nur nicht wann.“
Wahr ist aber vermutlich auch: So wichtig es ist, einen möglichst genauen Kompass zu haben, der nicht nur das rein Medizinische umfassen sollte, nie wird man in solchen Lagen Fehlentscheidungen ausschließen können. Arnd Brechmann zitierte den damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der schon in einem frühen Stadium der Pandemie sagte: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“
„Die Stadt hat zusammengehalten, wir alle haben viel geleistet“
Bei aller Kritik gebe es auch vieles, auf dass Essen stolz sein könne, betonte Peter Renzel. „Die Stadt hat zusammengehalten, wir haben alle viel geleistet.“ Das gilt nicht zuletzt für den Stadtdirektor selbst, der in den ersten Wochen und Monaten ein enormes Pensum schulterte und dem man Erschöpfung und enorme Verantwortung auch ansah. Ausgleich verschaffte sich der gelernte Sozialarbeiter Abend für Abend mit sehr persönlichen Berichten im Netzwerk Facebook. „Für mich war das eine Pflichtlektüre“, attestiert ihm Arnd Brechmann und konnte damit vermutlich für viele andere Bürger sprechen.
Das Thema Solidarität stellt auch Peter Sandhaus mit seinem Kunstwerk „Gemeinschaftstrage“ in den Mittelpunkt. Die aus Bronze gefertigte Sitzbank, die einer überdimensionierten Krankentrage ähnelt, ging aus 50 Bewerbungen als Sieger hervor. Eine Jury unter der Schirmherrschaft der kirchlichen Initiative Ars-Liturica traf die Entscheidung
Kulturelle Erinnerung an das Jahrhundertereignis wachhalten
Treffpunkt möge die Liege sein, zu Gespräch, Reflektion oder auch Polarisierung einladen, hieß es. Wenige Meter von der lauten, hier vierspurigen Frintroper Straße entfernt, dürfte das nicht immer ganz einfach sein. Andererseits ist der Gedenkort im Schnittpunkt von St. Franziskus-Kirche, Bertha-Krupp-Seniorenheim, Kita St. Franziskus und der Albert Liebmann-Schule gut gewählt. Sind hier doch viele Bevölkerungsgruppen auf engem Raum vereint, die während der Pandemie besonders zu leiden hatten.
„Genau 994 Essenerinnen und Essener sind in Verbindung mit der Pandemie gestorben“, so Peter Renzel. „An und mit Corona“, wie es oft hieß, und das bedeutet auch: Ob viele dieser Menschen noch leben würden, wenn es die Pandemie nie gegeben hätte, muss offen bleiben. Das Leiden, das die Corona-Zeit in welcher Form auch immer verursachte, ist jedenfalls für Arnd Brechmann Grund genug, einen Denkort zu schaffen. Es gelte „die kulturelle Erinnerung an dieses Jahrhundertereignis wach zu halten“.
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