Essen. Seit 2018 versuchen Awo und Polizei in Essen gemeinsam, Jugendliche vor einer kriminellen Karriere zu bewahren. Nun macht die Awo Schluss.

Gefährdete oder bereits straffällig gewordene Kinder und Jugendliche vor einer kriminellen Karriere zu bewahren – das ist das erklärte Ziel des landesweiten Projektes „Kurve kriegen“. In Essen haben sich dafür das Polizeipräsidium und die Arbeiterwohlfahrt (Awo) zusammengetan. Und das bislang offenbar mit großem Erfolg. Doch nun steigt die Awo überraschend aus dem Vorzeigeprojekt aus – und das sogar vorzeitig.

„Wir bedauern diesen Schritt“, bestätigt Essens Awo-Chef Oliver Kern gegenüber dieser Zeitung den Awo-Rückzieher bei „Kurve kriegen“. Seine Begründung: Eine schon seit einem halben Jahr krankheitsbedingt vakante Vollzeitstelle könne schlichtweg nicht wieder besetzt werden. Die verbliebenen zwei Kräfte, verteilt auf anderthalb Stellen, seien nicht in der Lage, das Arbeitspensum zu bewältigen. „Wir haben intensiv nach geeigneten Fachkräften gesucht, aber es gibt einfach keine Bewerber.“ Die Anforderungen seien sehr hoch, ideal wären Sozialarbeiter mit langer Berufserfahrung und ausgeprägter Menschenkenntnis.

„Wir bedauern diesen Schritt“, kommentiert Essens Awo-Chef Oliver Kern den Ausstieg seines Wohlfahrtsverbandes aus dem erfolgreichen Projekt „Kurve kriegen“.
„Wir bedauern diesen Schritt“, kommentiert Essens Awo-Chef Oliver Kern den Ausstieg seines Wohlfahrtsverbandes aus dem erfolgreichen Projekt „Kurve kriegen“. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

In Essen kümmert sich das Projekt aktuell um zwei Dutzend Kinder und Jugendliche

Betroffen von den aktuellen Schwierigkeiten bei der Awo sind in Essen zwei Dutzend Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 8 und 18 Jahren. Heranwachsende, die bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind oder in die Kriminalität abzurutschen drohen. Keiner ist gezwungen mitzumachen, die Teilnahme am Projekt ist freiwillig.

„Schule schwänzen, Verweise, Sachbeschädigungen, Prügeleien, Kiffen, Sozialstunden, Raub, Dealen, Untersuchungshaft, Knast … was zunächst harmlos anfängt, endet fatal.“
NRW-Initiative „Kurve kriegen“ auf ihrer Webseite

Das Essener Polizeipräsidium reagiert nach außen betont nüchtern auf den Awo-Ausstieg. „Die Awo Essen hat durch krankheitsbedingte Personalausfälle seit einiger Zeit Schwierigkeiten, die vertraglich vereinbarten Dienstleistungen vollumfänglich zu erfüllen und weiteres Personal zu rekrutieren“, erklärt Polizeisprecher Thomas Weise.

„Schule schwänzen, Verweise, Sachbeschädigungen, Prügeleien, Kiffen, Sozialstunden, Raub, Dealen, Untersuchungshaft, Knast … was zunächst harmlos anfängt, endet fatal.“ So umreißt die NRW-Initiative „Kurve kriegen“ auf ihrer Webseite potenzielle Intensivtäterkarrieren. Ihre Arbeit beschreibt sie so: „Frühzeitig entdecken, richtig reagieren, passgenau helfen, individuell arbeiten und nachhaltig verhindern. Polizei und Jugendhilfe, Seite an Seite.“

Polizeisprecher kündigt nach Awo-Rückzieher vorgezogene Neu-Ausschreibung für Essen an

Unter Federführung des Landes-Innenministeriums haben sich 23 Polizeibehörden an 42 Standorten zwischen Rhein und Weser Anfang 2018 für sechs Jahre mit Trägern der freien Jugendhilfe zusammengetan. In Essen kooperiert die Polizei seitdem mit der Awo. Für den Zeitraum 2025 bis 2030 wird es ein neues Ausschreibungsverfahren geben.

Doch die Awo Essen hat das Innenministerium bereits vorab davon in Kenntnis gesetzt, dass man sich am neuen Ausschreibungsverfahren nicht mehr beteiligen werde. Mehr noch: Mit der Awo Essen sei vor wenigen Tagen bereits ein Aufhebungsvertrag geschlossen worden, der einen vorzeitigen Ausstieg beinhalte, so der Polizeisprecher. Die Konsequenz: Die Ausschreibung muss nun wegen der Personalprobleme der Awo für den Standort Essen eigens vorgezogen werden. Und das soll – zum Vorteil der betroffenen Jugendlichen – sehr zügig geschehen. „Es soll so schnell wie möglich ein neuer Träger in Essen gefunden werden“, betont der Polizeisprecher. Bis dahin, so die Abmachung, habe die Awo Essen sicherzustellen, dass die zwei Dutzend Jugendlichen von „Kurve kriegen“ professionell betreut werden.

Doch wie will man dies angesichts der Personalmisere meistern? Awo-Chef Oliver Kern räumt eventuelle Zweifel aus und versichert gegenüber dieser Zeitung, dass erfahrene Sozialarbeiter vorübergehend bei „Kurve kriegen“ einspringen und die vertraglich vereinbarten Anforderungen erfüllen würden.

Noch vor einem Jahr galt das Essener Projekt als Vorbild für Schweden

Allen Beteuerungen zum Trotz reiben sich „Branchenkenner“ verwundert die Augen über den leisen Awo-Ausstieg bei „Kurve kriegen“. Denn erst vor gut einem Jahr, im Januar 2023, hatte sich die Essener Arbeiterwohlfahrt für ihre Erfolge noch selbst gefeiert: als Vorbild weit über die Stadtgrenzen hinaus. Als in Stockholm und Göteborg ein Projekt nach Essener Vorbild mitangeschoben worden war, verbreitete die Essener Awo eine Pressemitteilung mit der euphorischen Schlagzeile: „Initiative ‚Kurve kriegen‘ mit Awo Essen und Polizei Essen macht Schule in Schweden“.

Davon kann demnächst keine Rede mehr sein.

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