Essen. Hunderte gingen in Essen aufeinander los, die Clan-Fehde hielt Altendorf tagelang in Atem. Anderthalb Jahre danach ist nun ein Prozess gestartet.

Mit Messern und Fäusten gingen Hunderte Männer aufeinander los, Bistro-Tische und Stühle flogen durch die Luft – es herrschte Ausnahmezustand in Essen-Altendorf Ende Juni 2022. Die am helllichten Tag ausgetragene Fehde zweier Großfamilien sorgte bundesweit für Entsetzen. Ein Mann wurde bei der Auseinandersetzung vor anderthalb Jahren lebensgefährlich verletzt. Seit Mittwoch (24.1.) beschäftigt die Clan-Schlägerei nun das Essener Landgericht. Es wird nicht der einzige Prozess bleiben.

Angeklagt ist zunächst einmal ein 27-jähriger Türke. Die Wachtmeister sind schon eine Stunde vor Prozessbeginn vor Ort. Der Wartebereich vor dem großen Sitzungssaal 101 ist großräumig abgesperrt. Alle Heizkörper wurden zuvor mit Hilfe eines Spezialspiegels durchleuchtet – auf der Suche nach möglicherweise versteckten Waffen.

Clan-Fehde in Essen-Altendorf: „Damals war Krieg“

Der Angeklagte und auch das damalige Opfer werden im Gerichtsgebäude gleich zweimal auf Waffen durchsucht: einmal in der Sicherheitsschleuse am Eingangsbereich und dann noch einmal direkt vor dem Saal. Die wenigen Zuschauer, die an diesem Morgen gekommen sind, müssen sich ausweisen. „Damals war Krieg“, sagt einer von ihnen. Heute sei jedoch alles wieder ruhig.

Es war der 25. Juni 2022, ein Samstag, als auf der Altendorfer Straße ein anfangs völlig harmloser Streit plötzlich eskaliert ist. Es ging um einen Parkplatz. Was folgte, war eine Massenschlägerei, die völlig außer Kontrolle geriet. Auf Handy-Videos, die vor Gericht gezeigt werden, sind Männer zu sehen, die mit Stühlen auf andere einschlagen. Ein Beteiligter bricht mitten auf der Straße zusammen.

Aufgeheizte Stimmung in Essen-Altendorf

Das spätere Opfer gehörte zur El-Zein-Familie. „Ich bin zufällig vorbeigekommen“, sagt der 32-Jährige am Mittwoch zu den Richtern. Zu diesem Zeitpunkt sei die Stimmung in Altendorf schon völlig aufgeheizt gewesen. Beleidigungen flogen hin und her. „Ich habe noch versucht, die Männer zu beruhigen, aber es war schon zu spät.“

Den Angeklagten habe er damals gar nicht gesehen. Der 27-Jährige stand schräg hinter ihm, hielt ein Teppichmesser in der Hand. Auch das ist auf einem Foto zu sehen, das im Gericht auf einem der XXL-Bildschirme gezeigt wird. Dann ging alles ganz schnell.

„Ich habe einen Schmerz gespürt – wie einen Schlag“, so der 32-Jährige. Das viele Blut will er erst viel später bemerkt haben. Der Angeklagte soll ihn unterhalb des Ohrs direkt in den Hals gestochen und die Klinge dann 15 Zentimeter weit nach unten gezogen haben – bis in den Brustbereich. Der Schwerverletzte musste sofort ins Krankenhaus. Es bestand Lebensgefahr.

Auf Fotos, die bei der Operation entstanden sind, ist eine klaffende Schnittwunde zu sehen. Die lange Narbe am Hals, die der 32-Jährige am Rande des Prozesses zeigt, wird für immer sichtbar bleiben.

Opfer über Angeklagten: „Ich mag ihn immer noch“

Umso überraschender ist seine Zeugenaussage vor der 7. Strafkammer des Essener Landgerichts. „Ich mag ihn immer noch“, sagt das Opfer in Richtung des Angeklagten. „Ich habe ihm verziehen.“ Man sei auch vorher schon befreundet gewesen, habe einen Tag vor der Bluttat sogar noch über einen gemeinsamen Urlaub gesprochen.

Landgericht Essen: Der angeklagte 27-Jährige neben seinem Verteidiger Rüdiger Böhm.
Landgericht Essen: Der angeklagte 27-Jährige neben seinem Verteidiger Rüdiger Böhm. © Jörn Hartwich | Jörn Hartwich

Der Angeklagte selbst äußert sich beim Prozessauftakt noch nicht zu den Vorwürfen, die Tat hat er über seinen Verteidiger Rüdiger Böhm aber bereits gestanden. Auch Schmerzensgeld soll angeboten worden sein. Das hatte das Opfer jedoch abgelehnt: „Ich brauche das nicht. Es geht mir gut. Wir haben uns die Hand gegeben.“

Friedensrichter schlichtet Clan-Fehde von Essen-Altendorf

Einige Wochen nach der Tat soll es nach Angaben des 32-Jährigen mehrere Treffen zwischen Vertretern der beiden Großfamilien gegeben haben. Das erste auf neutralem Boden – in einer Moschee. Die Fehde innerhalb einer in Altendorf offensichtlich fest etablierten arabischen Parallelgesellschaft wurde von einem Friedensrichter beigelegt. Seitdem sei die Sache geklärt, heißt es.

Die Clan-Ausschreitungen hatten Ende Juni 2022 mehrere Tage gedauert und den Stadtteil in Atem gehalten. Immer wieder war es zu Zusammenstößen gekommen. Die Polizei reagierte mit massiver Präsenz, schickte unter anderem eine mobile Wache nach Altendorf. Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen hatte damals erklärt: „Gewalttätige Auseinandersetzungen auf offener Straße dulden wir nicht.“

Clan-Fehde von Essen-Altendorf: Weitere Prozesse folgen

Wie Staatsanwalt Gerriet Ohls auf Anfrage mitteilt, müssen sich demnächst weitere zehn Angeklagte vor Gericht verantworten – teilweise vor dem Jugendgericht. Auch gegen das Opfer der Messerattacke selbst läuft noch ein Ermittlungsverfahren. Der am Mittwoch angeklagte 27-Jährige war rund vier Monate nach der Tat festgenommen, aber schon einen Tag später wieder von der Untersuchungshaft verschont worden.

Die Anklage gegen ihn lautet auf gefährliche Körperverletzung und schweren Landfriedensbruch. Das Opfer der Messerattacke will übrigens aus Altendorf wegziehen. „Ich möchte aus dem Stadtteil raus – meiner Kinder zuliebe“, sagte er den Richtern. „Ich will nicht, dass sie in so einem Umfeld aufwachsen.“

Das Urteil wird Mitte März erwartet.

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