Essen. Die Kleinen in den Notaufnahmen des Kinderschutzbundes Essen brauchen Unterstützung. 17. Spendenaktion für die „Spatzennester“ startet.

Die Wut tut weh. Ihm und anderen. Marvin reißt sich die Haare aus, kneift sich unablässig. Zu oft geht der Achtjährige aber auch auf seine Betreuer oder andere Kinder los. Tritt, kratzt und beißt, als wolle er so seinen unerträglichen Schmerz weitergeben. Rastet er aus, macht die Wut ihn schrecklich einsam. Dann, wenn er mal wieder allein in seinem Zimmer sitzt und still mit Lego spielt, als wolle er den Lärm der anderen Kleinen in der Notaufnahme aussperren. Ihr Krach macht ihm Angst, weil er Erinnerungen weckt - an seine Mutter, die ihn angeschrien und verprügelt hat, wenn sie mal wieder betrunken war. Statt Liebe gab es Schläge ins Gesicht und gegen die Seele, mehrmals täglich, manchmal wegen schlechter Schulnoten, meistens grundlos.

Mit blauen Flecken übersät und tiefen Wunden in seinem Kinderherzen landet Marvin schließlich in einem Essener Schutzhaus - so wie 41 weitere misshandelte, missbrauchte oder vernachlässigte Jungen und Mädchen, die der örtliche Kinderschutzbund allein in den ersten zehn Monaten dieses Jahres im „Spatzennest“ in Altenessen und der Einrichtung „Kleine Spatzen“ für die Jüngsten in Borbeck neu aufgenommen hat.

Insgesamt lebten oder leben damit in diesem Jahr 66 Kinder in den beiden Notaufnahmen, 48 Jungen und 18 Mädchen. 27 waren jünger als sechs Jahre, 39 im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren. Der Bedarf an Plätzen ist jedoch um ein Vielfaches höher, als es die Zahl der Bewohner vermuten lässt: Im selben Zeitraum mussten 342 Anfragen für eine Aufnahme abgelehnt und die Kinder auf Einrichtungen in ganz NRW verteilt werden.

Entgiftung und Entzug konnten nicht helfen

Das ist ein neuer trauriger Rekord, zumal sich hinter vielen der Unterbringungswünsche nicht nur eins, sondern gleich mehrere schlimme Schicksale verbergen können. Wie das des zweieinhalb Jahre alten Paul und seiner Geschwister, die gleichzeitig aus ihrer Familie geholt werden mussten. Entgiftung und Entzug hatten ihren suchtkranken Eltern nicht helfen können: Massive Drogen- und Alkoholexzesse sind in der Familie an der Tagesordnung, bis die Nachbarn Alarm schlagen.

Als der kleine Kerl ins Spatzennest kommt, ist sein Allgemeinzustand dramatisch schlecht. Einen Kinderarzt hat der Junge nie gesehen, Früherkennungsuntersuchungen sind nirgends dokumentiert. Inzwischen sind die Versorgungslücken geschlossen und in der kleinen Spatzengruppe fühlt sich Paul sichtlich wohl. Wann er das Haus verlassen kann, ist allerdings offen. Wie Paul geht es vielen der Kinder dort.

Martina Heuer vom Essener Kinderschutzbund weiß:  „Es ist für die Kinder ein wichtiges Gefühl, etwas geschenkt zu bekommen.“
Martina Heuer vom Essener Kinderschutzbund weiß:  „Es ist für die Kinder ein wichtiges Gefühl, etwas geschenkt zu bekommen.“ © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Sie werden in den Einrichtungen inzwischen deutlich länger betreut als geplant. Der Kinderschutzbund will diesen Teufelskreis aus längerer Verweildauer mangels alternativer Betreuungsmöglichkeiten etwa in Pflegefamilien auf der einen Seite und den komplexeren psychischen und physischen Problemen der Kleinen auf der anderen durchbrechen: Eine weitere, die dritte Einrichtung in Essen, ist deshalb in Planung, ein neues Schutzhaus, das einen längeren Aufenthalt für besonders belastete Kinder ermöglicht und so die bestehenden Häuser, die nicht ohne Grund Notaufnahmen heißen, entlastet.

Die Konzeption musste sich der Realität beugen

Denn eigentlich sollen die „Spatzen“ nicht länger als sechs Monate dort wohnen. Doch diese anfängliche Konzeption musste sich der Realität längst beugen: 24 Bewohner bleiben oder blieben zwischen einem und zwei Jahren in den zwei Nestern. Ein drittes in Gestalt eines Neubaus kann der Kinderschutzbund aus eigener Kraft nicht stemmen. Einmal mehr sind viele Spender und Unterstützer gefragt, um das Vorhaben in den nächsten Jahren umsetzen zu können. 16 zusätzliche Plätze in zwei Gruppen für Zwei- bis Zehnjährige sollen entstehen, die den tatsächlichen Bedarf natürlich nicht decken können, aber dennoch weitere wichtige Bausteine zum Schutz des Kindeswohls in Essen sind.

Stadtweit sind die Dimensionen gewaltig, die Wahrheit dahinter ist bitter: Die Inobhutnahmen aufgrund von Missbrauch, Misshandlung oder Verwahrlosung summierten sich im vergangenen Jahr auf 716, das waren noch einmal sechs Prozent mehr, als im Jahr davor, weiß Ulrich Spie, Vorsitzender des Essener Kinderschutzbundes. Junge unbegleitete Flüchtlinge, deren Zahl ebenso steigt, sind da noch nicht einmal eingerechnet. „In Deutschland wird alle 13 Minuten ein Kind in Obhut genommen“, betont Spie: „Da kann man nicht sagen, wir haben kein Problem. Nein, wir haben viel Handlungsbedarf.“ Wohlwissend: Die ersten 1000 Tage eines Kindes bestimmen 80 Prozent seines späteren Lebenspotenzials.

Umso mehr ist nun in den Notaufnahmen Zeit für besondere Nestwärme. Die Weihnacht steht alle Jahre wieder auch in den Schutzhäusern für Nächstenliebe und ist Anlass genug, jenen Gutes zu tun, denen das Leben, kaum dass es begonnen hat, auf das Übelste mitspielt. Einige der „Spatzen“ in den Notaufnahmen werden in diesem Jahr zum ersten Mal ein Fest ohne Frust, einen Heiligabend ohne Heulen, eine Weihnacht zum Wohlfühlen und mit Präsenten erleben, die Sie, liebe Leserinnen und Leser, den kleinen Bewohnern der Notaufnahmen einmal mehr schenken können.

In jedem Präsent findet sich ein neues Selbstwertgefühl

Was wichtiger denn je ist: Nach Corona machen dem Kinderschutzbund wegbrechende Spenden als wichtigste Einnahmequelle bei gleichzeitig steigenden Preisen und Kosten schwer zu schaffen. Umso wichtiger ist in diesem Jahr die erneute Unterstützung der NRZ-Leserinnen und -Leser. Der Kinderschutzbund ist noch heute begeistert von der Spendenbereitschaft bei der NRZ-Weihnachtsaktion des vergangenen Jahres: Über 350 liebevoll eingepackte Geschenke und nicht weniger als 29.000 Euro an Geldspenden sind für das „Spatzennest“ in Altenessen und das Borbecker Haus „Kleine Spatzen“, in dem die Jüngsten Zuflucht finden, zusammengekommen.

Martina Heuer und Ulrich Spie vom Kinderschutzbund sowie NRZ-Lokalchef Wolfgang Kintscher (li.) freuten sich im vergangenen Jahr über 350 Präsente und 29.000 Euro an Geldspenden.
Martina Heuer und Ulrich Spie vom Kinderschutzbund sowie NRZ-Lokalchef Wolfgang Kintscher (li.) freuten sich im vergangenen Jahr über 350 Präsente und 29.000 Euro an Geldspenden. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

In jedem Präsent, das dort zum Fest ankommt, findet sich ein neues Selbstwertgefühl, schon die Kleinsten sind superstolz, wenn sie einfach mal etwas Neues zum Anziehen besitzen, ein eigenes Kuscheltier in den Arm nehmen können, wissend, „das ist jetzt meins“, sagt Martina Heuer vom Kinderschutzbund: „Es ist für die Kinder ein wichtiges Gefühl, etwas geschenkt zu bekommen.“ So finden sie ein bisschen Frieden.

Ein Gefühl, auf das Marvin immer noch wartet. In der Schule ist seine Wut auf ein anderes Kind losgegangen. Die Grenze war überschritten. Der Junge aus dem Spatzennest musste in eine andere Einrichtung umziehen. Wo man mehr Zeit für seine Wut hat, aber eins auch nicht weiß: Wann sie ihn endlich in Ruhe lassen wird.

Was die Spatzenkinder in diesem Jahr benötigen:

Zum mittlerweile 17. Mal unterstützt die NRZ-Stadtredaktion Essen mit ihrer alljährlichen Weihnachtsaktion das „Spatzennest“ und das Haus „Kleine Spatzen“, die Notaufnahmen des Kinderschutzbundes in Altenessen und Borbeck. Auch in diesem Jahr bitten wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, um Ihre Mithilfe für die Jüngsten in Not. Gemeinsam mit den Mitarbeitern des Kinderschutzbundes haben wir einen Wunschzettel mit den Dingen zusammengestellt, die in diesem Jahr dringend benötigt werden:

- Kinder-Bekleidung, vor allen Dingen Unterwäsche in allen Größen, Schlafanzüge, Socken

- Gutscheine für Hygiene, Kino, Zoo etc.

- Hygieneartikel für Kinder (Zahnbürsten, Duschbad etc.)

- Duplo

- Lego

- Playmobil 123

- Playmobil

- Spielzeug-Autos jeglicher Größe

- Spielzeug Baustellen-Fahrzeuge jeglicher Größe

- Bälle, Straßenkreide

- Malstifte aller Art

- Zeichenblöcke, Malen nach Zahlen

- Murmelbahn

- Knete mit Zubehör

- Magischer Sand , Aquabeads

- Fahrradhelme, Protektoren für Kinder

- Puppen-Zubehör (Kleidung, Flasche, Bett etc.)

- Steckpuzzle (2-4 Jahre), Puzzle (3-5 Jahre)

- Roller, Skateboards

- Nachtlichter Sternenhimmel

- Schleich-Tiere

- Dinos jeglicher Größe

- Bücher über Gefühle (Wut, Trauer Ärger etc.)

Ihre Spenden können Sie vom 4. Dezember bis einschließlich 21. Dezember am FUNKE-Empfang im Foyer des Medienhauses, Jakob-Funke-Platz 1, in der Essener Innenstadt abgeben: montags bis freitags von 7 bis 17 Uhr. Zu Weihnachten wäre es schön, wenn Ihre verpackten Geschenke neuwertig wären. Ein kleines Inhaltsschildchen an den Päckchen ist hilfreich bei der Bescherung an Heiligabend. Wenn Sie lieber Geld - zum Beispiel für den Bau der dritten Notaufnahme - spenden möchten, ist auch das möglich bei der Sparkasse Essen, BLZ: 360 501 05, Konto: 290 700, IBAN DE70 3605 0105 0000 2907 00, Empfänger: Kinderschutzbund Essen, Verwendungszweck: Spatzennest/NRZ-Aktion. Auf Wunsch stellt der Kinderschutzbund eine Spendenquittung aus. Nähere Infos dazu gibt’s bei dem gemeinnützigen Verein unter der Rufnummer 0201/49 550 755.