Essen. An der Marktkirche in der Essener Innenstadt bitten Händler augenzwinkernd zu einer Zeitreise ins 13. Jahrhundert. Ein Besuch.

„Seid gegrüßt, Zeitreisender.“ Die Worte, mit denen uns Wolfhardt der Wanderer empfängt, klingen aus der Zeit gefallen, so wie sein Name. Im wirklichen Leben heißt der gute Mann Wolfgang Seiffert. Er ist auch nicht auf Wanderschaft, sondern wohnt in Kray. Bis Weihnachten ist der gelernte Steuerfachgehilfe in eine Rolle geschlüpft, die so etwas ist wie sein zweites Ich. Wolfhardt der Wanderer ist der Schmied auf dem Essener Mittelaltermarkt.

Wer im Mittelalter eine Rolle spielen will, findet auf dem Markt die passende Bekleidung. Foto: Dirk A. Friedrich / Funke Foto Services
Wer im Mittelalter eine Rolle spielen will, findet auf dem Markt die passende Bekleidung. Foto: Dirk A. Friedrich / Funke Foto Services © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Das Mittelalter beginnt in Essen gleich an der Marktkirche. Der alljährliche Weihnachtsmarkt geht dort über in eine andere Welt. Nach wenigen Schritten werden Besucher zu Zeitreisenden, wie sie Wolfhardt der Wanderer nennt. Zeitreisende, das erinnert an eine französische Kino-Komödie, in der sich Ritter aus dem Mittelalter in die Neuzeit verirren. Ältere Jahrgänge kennen dieses Sujet. Der zauselige Zauberer Catweazle tauchte in der gleichnamigen britischen Fernsehserie ebenso unverhofft im Hier und Jetzt auf und staunte über den Elektrik-Trick: Das Licht ging beliebig oft an und aus, so oft er den Schalter drückte.

Der Marktmeister organisiert den Markt seit 17 Jahren für die Essen Marketing Gesellschaft

Nun, auf dem Mittelaltermarkt geht es in die entgegengesetzte Richtung, Zeitreisende landen in der Vergangenheit. „Wir versuchen unseren Besuchern, das Mittelalter näherzubringen“, sagt Knut Schulz, der das Lager aus Hütten und Zelten für die Essen Marketing Gesellschaft organisiert.

Schulz kennt sich aus. Land auf, Land ab veranstaltet er historische Märkte und Lagerleben - auf der Festung Ehrenbreitstein in Koblenz, auf Schloss Walbeck am Niederrhein, auf Schloss Wickrath und ganz in der Nähe in Mülheim auf Schloss Broich. Irgendwo ist immer Mittelalter. So wie seit 17 Jahren am Essener Weihnachtsmarkt hinter der Marktkirche.

Carmen Goldschmidt schlüpft in die Rolle der Märchenerzählerin „Fabulix“. Foto: Dirk A. Friedrich / Funke Foto Services
Carmen Goldschmidt schlüpft in die Rolle der Märchenerzählerin „Fabulix“. Foto: Dirk A. Friedrich / Funke Foto Services © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Dort trifft der Zeitreisende Gestalten wie Fabulix alias Carmen Goldschmidt, die Märchenerzählerin. Die 59-Jährige bittet vormittags Kinder in die „Märchen Schänke“ ihrer Tochter Isabell und immer dienstags und donnerstags ab 19 Uhr Erwachsene. Zu Getränken wie dem „Süßen Gallier“ serviert Fabulix dann Gedichte aus eigener Feder. Reime, „eindeutig zweideutig, aber nicht zu doll“, wie sie selbst sagt. Der ein oder andere Herr im fortgeschrittenen Alter soll schon errötet sein ob ihrer Dichtkunst. Vielleicht lag es aber auch am „Süßen Gallier“.

Nadeln aus echter Handarbeit. Foto: Dirk A. Friedrich / Funke Foto Services
Nadeln aus echter Handarbeit. Foto: Dirk A. Friedrich / Funke Foto Services © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Carmen Goldschmidt identifiziert sich mit ihrer Rolle. So sehr, dass ihr beim Einkaufen zum Abschied an der Kasse schon mal ein „Gehabt euch wohl“ herausrutscht. Ihr von Natur aus rotblondes Haar hat sie mit roter Tönung etwas nachgefärbt, als Fabulix trägt sie Hut und Kleider wie Frauen sie im 12. oder 13. Jahrhundert trugen, sagt sie.

Der historische Kontext spielt auf dem Essener Mittelaltermarkt keine Rolle

Aus jener Zeit datiert der Vertrag über den Bau der Essener Stadtbefestigung, 1244 wurde der Kontrakt geschlossen. Äbtissin und Bürger rangen seinerzeit miteinander um die Macht. Die dunkelsten Jahre des Mittelalters lagen da schon hinter den damaligen Bewohnern der Stadt. Ein Zuckerschlecken war das Leben aber für die allermeisten sicher nicht. Auf dem Mittelaltermarkt wird es idealisiert. Gerade in den Abendstunden wirkt das Ambiente eher romantisch, statt rustikal. Bierernst sollte man das Ganze also nicht nehmen. Darauf einen Becher Met.

Die Marktkirche bildet die Kulisse für den Mittelaltermarkt in der Essener Innenstadt. Foto: Dirk A. Friedrich / Funke Foto Services
Die Marktkirche bildet die Kulisse für den Mittelaltermarkt in der Essener Innenstadt. Foto: Dirk A. Friedrich / Funke Foto Services © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Der historische Kontext bildet allenfalls den groben Rahmen. Dass Wolfhardt der Wanderer, der Schmied, zur Zange greift, um seinen Kunden von quälenden Zahnschmerzen zu befreien, was im Mittelalter für Angehörige seiner Zunft zum Geschäft gehörte, ist nicht zu erwarten. An seinem Stand beschränkt er sich auf das Vorführen seiner Schmiedekunst. Kindern hilft er beim Schneidern von kleinen Geldbeuteln, die sie aus Leder anfertigen können. Apropos: Beutelschneider sollten Obacht geben. Wolfhardts Gefährte mit Namen Dieter gibt als Ritter Angus bei Ritterspielen Kostproben seiner Schwertkunst.

Auf dem Markt bleibt die Waffe in der Scheide und gut verstaut daheim im Schrank. Schwerter gibt es, aber die sind Kinderspielzeug aus Holz. Dazu bieten die Händler an ihren Ständen allerlei Waren feil, darunter Tierfelle, Trinkhörner, Lederwaren, Liköre und echtes Drachenblut - auch das ein erwärmendes Getränk, das man am offenen Feuer genießen kann.

Trinkhörner Foto: Dirk A. Friedrich / Funke Foto Services
Trinkhörner Foto: Dirk A. Friedrich / Funke Foto Services © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

„Wo gibt es so was schon?“, fragt Knut Schulz, der Marktmeister, und verrät, dass in jeder Hütte und in jedem Zelt ein Feuerlöscher stets griffbereit steht. Soviel Neuzeit ist dann doch, um Auflagen kommen sie auch auf Mittelaltermärkten nicht herum, was Veranstaltern das Leben immer schwerer macht, wie Knut Schulz zu berichten weiß.

Der Mittelaltermarkt bietet Gelegenheit, dem Alltag ein wenig zu entfliehen

Und was macht die Reise in die Vergangenheit für Händler so reizvoll? „Wir sind eine große Familie“, sagt „Fabulix“, die Märchentante. Man kennt sich eben von diversen Mittelaltermärkten. Die bieten Gelegenheit, für ein paar Tage oder Wochen „rauszukommen aus dem täglichen Trott“, sagt Wolfhardt der Wanderer. Ein Satz, den man so oder ähnlich öfter hört an den Ständen. Das Leben sei entschleunigt. Auch wenn das zur Weihnachtszeit nur bedingt gilt.

Die Schlangen vor der „Taverne“ sind zwar nicht so lang wie vor den Glühweinbuden auf dem Kennedyplatz, aber hinter der Theke hat Leonard gut zu tun. Der 33-Jährige arbeitet als Aushilfe, ist ebenfalls Mittelalterfan und im echten Leben Student. Leonard will Programmierer werden. Vielleicht programmiert er ja irgendwann einmal eine Zeitmaschine.

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